Der Schmetterlingsbaum
endlich.«
Auf halbem Weg durch den Hof traf ich Mandy, die noch halb betäubt vom Schlaf wie eine weiße Säule im Gras stand. Im Unterschied zu ihren Brüdern, die im Haus geblieben waren, hatte sie der Tornado der Beschimpfungen, der drinnen explodiert war, aus ihrem Zimmer und ins Freie getrieben. In zerstückelten Details müssen ihr die Szene, die ich mit angesehen hatte, und die Scherben der Ehe ihrer Eltern klar geworden sein.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich meine eigenen Gefühle unterbringen sollte, keine Ahnung, wer schuldig war, wessen Herz auf schmerzhaftere Weise gebrochen worden war, wie es zu diesem Grauen gekommen war oder warum es ausgerechnet uns heimgesucht hatte. Die Angreiferin und die Angegriffene, die Ehebrecher und das Ehepaar schienen mir alle wie ein und derselbe groteske, rachsüchtige Erwachsene. Doch dann sah ich meine Cousine im Schlafanzug, so verwirrt und verloren, das Gesicht noch schlafverquollen, die Augen aber erfüllt von entsetzlichem Wissen. Was hätte ich damals sagen können, was kann ich heute darüber sagen? Nur dass ich mich dieses ganze letzte Jahr gefragt habe, was Mandys Liebhaber empfunden hätte, wenn er sie in diesem Moment gesehen hätte. Was hätte er zu diesem dünnen Kind gesagt, das da im dunklen Innenhof stand und von den schrecklichen Worten, die es gehört, den feindseligen Gesichtern, die es gesehen hatte, an Armen und Beinen zitterte? Hätte er Mitleid mit ihrer sensiblen Seite bekommen, hätte er sie mit echter Zuneigung in seine tröstenden Arme genommen? Hätte es einen Sensor in ihm gegeben, der für ihre Verletzlichkeit empfänglich gewesen wäre, hätte er das Bedürfnis verspürt, ihren Schmerz zu lindern und sie zu beschützen?
Ich nahm in dieser Nacht Mandys Hand und führte sie zu dem Picknicktisch, wo noch das verlassene Monopolyspiel aufgebaut war, die Spielsteine auf den verschiedenen Straßen verteilt – wir hätten direkt weiterspielen können. Nebeneinander saßen wir auf der Bank, starrten auf den See hinaus und warteten auf das Ende der Nacht. Wir sagten beide nicht viel. Und wir saßen noch dort, als am Horizont über dem Wasser der neue Tag begann, saßen noch dort, als der Streifenwagen von der Sanctuary Line ab- und in unsere Zufahrt einbog, um die Nachricht von Teos Tod zu überbringen.
A m nächsten Vormittag saßen Mandy und ich hinten im Auto meines Onkels und warteten darauf, von irgendeinem Erwachsenen irgendwohin gefahren zu werden. Nicht von meinem Onkel, nein, der kann es nicht gewesen sein. Wahrscheinlich war es meine Mutter, die uns forthaben wollte und uns anwies, ins Auto zu steigen, dann aber von der Krisensituation im Haus zurückgehalten wurde, mit ihrem Bruder redete, mit ihrer Schwägerin redete, ein wenig Ruhe in die unerträglich gewordenen Zustände zu bringen versuchte. Die Jungs waren in ihrem Zimmer. Was sie dort taten, wusste ich nicht, aber sie hatten ihren kleinen Fernseher laufen, und die Töne, die durch die Tür drangen, ließen vermuten, dass sie nach Ablenkung suchten, um nicht nachdenken zu müssen. Es muss etwas in ihnen zerbrochen sein. Mein Onkel redete mit keinem von uns. Als wir ihn zuletzt gesehen hatten, war er im Wohnzimmer, saß an dem Küchentisch, den er erst kurz zuvor hierher ausquartiert hatte, starrte durchs Fenster auf den See und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Meine Tante hingegen hatte die eintreffenden Maler postwendend wieder fortgeschickt und stand jetzt in der fast leeren Küche, die Hände rechts und links des Spülbeckens aufgestützt, mit verkrampften Armen, als fürchtete sie jeden Moment zusammenzubrechen oder sich übergeben zu müssen. Sie starrte durchs Küchenfenster auf die Straße am Ende der Zufahrt und wartete. Es fiel ein weicher Regen und sprenkelte die Windschutzscheibe des Autos mit kleinen hellen Wasserblasen; trotzdem sah ich hinter der Nässe das verschwommene Gesicht meiner Tante am Fenster. Einen Moment lang musste ich daran denken, wie ich als Kind in einem anderen, schon vor Jahren wieder verkauften Auto gesessen hatte, aus Sicherheitsgründen auf dem Rücksitz, und wie ich dort, wenn ich nicht aus dem Fenster schaute, die kleinen Mondsicheln beobachtete, die als Lichtspiegelung vom Zifferblatt der Uhr meiner Mutter über die stoffbespannte Autodecke huschten.
Kein Elend ist vergleichbar mit dem Elend eines jungen Menschen, keine Tränen mit seinen Tränen, und es ist undenkbar, dass er seinen Kummer für sich behalten könnte: Der Schmerz
Weitere Kostenlose Bücher