Der Schmetterlingsbaum
wäre das?« Das dürften seine ersten Worte an diesem Tag gewesen sein.
»Wenigstens ist niemand ums Leben gekommen.« Der Polizist hatte die Hand in der unteren Tasche seiner Uniformjacke, und ich hörte seinen Autoschlüssel klimpern. »Eine Stunde später, und auf diesem Highway wären massenhaft Autos unterwegs gewesen. Hätte ein Desaster werden können.«
»Aber es ist jemand ums Leben gekommen«, wandte meine Mutter mit Bestürzung in ihrer Miene und ihrem Tonfall ein.
»Ich meine, abgesehen von dem Autodieb.« Der Polizist hatte den Türknauf in der Hand. »Hätte ein Desaster werden können«, wiederholte er.
Er ließ die Fliegengittertür hinter sich zufallen und stieg die drei Stufen der Küchentreppe hinunter.
Mein Onkel sprach nun ein allerletztes Mal, mit gebrochener Stimme. »Ich wollte das nicht«, sagte er. »Aber was hätte ich tun können?« Er hatte sich umgedreht und sah mich an, als er das sagte, doch ich wusste darauf keine Antwort. Minuten später verließ er das Haus. Er sagte nicht, wo er hin wollte, und niemand beugte sich zur Tür hinaus, um ihm nachzurufen, wie früher so oft. Wir hofften nicht mehr, auf ein Abenteuer mitgenommen zu werden. Wir wollten ihn nicht mehr begleiten. Wir suchten nicht mehr seine Gesellschaft.
»Mach das Fenster auf, Amanda«, sagte meine Tante, als er weg war. »Auch im Wohnzimmer. Damit dieser ganze Rauch abzieht.«
II
A n einem klaren Morgen im Frühsommer dieses Jahres – am ersten Sonntag im Juni war es, auf den Tag genau ein Jahr nach Mandys Tod – bog ein Wagen, den ich nicht kannte, von der Sanctuary Line in die Zufahrt ein und kam zögernd, im Schritttempo auf das Haus zu. Ich hatte meinen Frühstückstisch abgeräumt und spülte das Geschirr von dieser und der Mahlzeit am Abend zuvor, und dabei starrte ich aus demselben Fenster wie damals vor vielen Jahren erst meine Tante, dann mein Onkel. Ich versuchte mehr über Robert Louis Stevenson nachzudenken als über Mandy, aber ich hatte kurz zuvor die Seminararbeit gelesen, die Mandy im vierten Studienjahr über Stevensons Gedichte geschrieben hatte, und ohnehin waren diese beiden Themen für mich unauflöslich miteinander verknüpft. Dass eine junge Offiziersanwärterin an einer Militärhochschule – die später im aktiven Dienst ums Leben kam – ausgerechnet über den Versgarten eines Kindes schrieb, nachdem sie sich so ausgiebig mit zeitgenössischer Lyrik befasst hatte, war fast mehr, als ich ertragen konnte. Dieses Thema war eine Zuflucht für sie gewesen, nehme ich an, eine Rückkehr in die Zeit, bevor alles zu Bruch ging. Ich musste daran denken, wie sie gesagt hatte, dass nichts je wieder so sein würde, wie es gewesen war.
Ich dachte auch über Emily Dickinson nach – Mandy hatte geschrieben, Stevensons Blick auf kleine, unbedeutende oder fragmentarische Bilder habe, obwohl männlicher und an Kinder gerichtet, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Sensibilität Dickinsons. Der Unterschied sei lediglich eine dunklere oder hellere Farbpalette, schrieb sie und verglich Zeilen wie »Ich fürchte dies erste Rotkehlchen so« mit »An meinem Fenster pickt / Ein gelber Vogel und nickt« und »Sie starb im Spiel – vertanzte viel – was an Stunden ihr geschenkt« mit »Wenn völlig versunken ins Spiel ist ein Kind, / erscheinen die Freunde, die unsichtbar sind«. Doch all diese Gräber und Totenbetten und all die hoffnungslose Liebe in Dickinsons Gedichten, aus solcher Distanz mitgeteilt, und der Tod selbst als ein so liebenswürdiger und lang erwarteter Besucher – das alles machte mich an diesem Vormittag nervös und gereizt, trotz des frühmorgens unternommenen Spaziergangs. Ich war durch den vernachlässigten Obstgarten gegangen, wo die krummen, knorrigen alten Bäume noch einmal eine Blüte getrieben hatten, die einem das Herz erfreuen sollte, was in meinem Fall aber nicht geschah. Und in meinem Blick aus dem Fenster und auf das unbekannte Auto, das langsam aufs Haus zukam, vermischten sich kreuz und quer Blüten, Gräber, Mandy und Teo. Als der Wagen angehalten hatte und ein attraktiver dunkelhaariger Mann ausgestiegen war – mit endlos langen Beinen – , war ich schon draußen vor dem Haus und ging ihm entgegen, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt, und in der Frage »Kann ich Ihnen helfen?« lag, ich gebe es zu, womöglich ein Hauch Sarkasmus.
»Sie sind Liz«, sagte er ruhig.
»Ach ja?«
Er ließ den Blick über das Anwesen schweifen, betrachtete die Blüten, die
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