Der Schmetterlingsbaum
erwachsener Nacktheit, die ich damals für die Hässlichkeit reifer Körper hielt, und der Hässlichkeit dessen, was zwischen meinem Onkel und Dolores offensichtlich vorgegangen war; Teo, das wusste ich, versuchte ebenfalls diese Erkenntnisse irgendwie zu verarbeiten. Er stand jetzt auf der anderen Seite des Tisches, näher dem Bett, auf dem seine Mutter lag.
»Yo la mato!« , stieß er schwer atmend hervor. » Yo la mato!« Der Hass in seiner Stimme machte mir Angst.
» No «, sagte seine Mutter. Sie hatte sich in eine helle Decke gehüllt, und ich starrte zwanghaft auf die Schwellung, die sich rund um ihr eines Auge bildete. Teo redete hastig auf seine Mutter ein, und nach jedem oder jedem zweiten Satz schmiss er sich gegen die Wand oder trommelte mit den Fäusten dagegen. Dolores sagte nichts außer no und einmal, eindringlicher, auf Englisch: »No fight!« So gedemütigt und verwundet, wie sie war, war sie doch voller Stolz, und es war etwas Mitleidloses in ihrem Tonfall; kein Selbstmitleid, schien mir, auch kein Mitleid mit ihrem jungen Sohn – als sei sie der Meinung, er habe kein Recht auf die Wut, die sein Blut in Wallung brachte. Kein Recht – obwohl er seine Mutter gesehen hatte, wie kein Kind seine Mutter je sehen soll, geschlagen, derangiert, unmittelbar nach der Liebe.
»Amor« , sagte sie jetzt wie zur Antwort auf die Frage, die er immer wieder stellte, eine Frage, die ich unmöglich verstehen konnte und die mit »¿Por qué?« begann. »¿Por qué?« , hatte er immer wieder gefragt.
Bei diesem Wort aus dem Mund seiner Mutter erstarrte er. Dann blickte er für einen kurzen Moment zu mir her. Ich stand links neben der Tür, hatte mich keinen Zentimeter mehr gerührt, seitdem wir beide zwischen den von meiner Tante gepflanzten Zedern hindurchgestürmt und in die wahnsinnige Erwachsenenwelt innerhalb der vier Wände dieses rostigen alten Wohnwagens eingebrochen waren. »Amor« , wiederholte Teo bitter.
»Die Schlüssel«, sagte er zu mir mit ausgestreckter Hand. »Gib sie mir.« Und fügte leiser hinzu: »Bitte.«
»Das tu ich nicht«, sagte ich und fing zu weinen an.
»Bitte!«, wiederholte er, jetzt flehentlich. »Ich bitte dich, mir die Autoschlüssel zu geben.«
»Nein«, sagte Dolores. Sprach sie mit mir oder mit ihrem Sohn? »Nein.«
Vielleicht wollte er in die Stadt und den Arzt verständigen. Vielleicht ist es das, was er im Sinn hatte, aber ich weiß es nicht. Natürlich konnte er nicht ins Haus und dort das Telefon benutzen. Aber – und das verfolgt mich bis heute, das verzeihe ich mir nicht – ich hätte es tun können. Ich hätte mich aus meiner Lähmung reißen können, hätte vorbei an dem Hass und den Gemeinheiten, die in der Küche ausgelebt wurden, ins Wohnzimmer gehen können, wo auf dem Schreibtisch meines Onkels das Telefon stand, und ich hätte anrufen können. Ich hätte diese Autoschlüssel fest in meiner Tasche lassen können.
Es war Teos Hilflosigkeit, seine Verzweiflung, meine eigene Ratlosigkeit, die mich bewogen, ihm das kleine Stück Macht auszuhändigen, das die zwei flachen Metallteile in meinem Besitz enthielten. »Ich komme mit«, sagte ich, aber er war durch die Tür, noch ehe ich mit dem Satz fertig war. Draußen hörte ich die Reifen auf dem hellen Kies knirschen und wusste, dass er auf und davon war.
Der Innenraum dieses Wohnwagens hat sich mir unauslöschlich eingebrannt und wird nie mehr aus meiner Erinnerung verschwinden, das weiß ich mit Sicherheit. Ich sehe ihn vor mir, wann immer ich den Schlüssel in die Zündung irgendeines Autos stecke. Er taucht vor mir auf, wenn ich Lebensmittel einkaufe oder mich im Labor über das Mikroskop beuge, und er hat sich mir jedes Mal, wenn ein Mann mit mir zu schlafen versuchte, brutal ins Bewusstsein gedrängt. Dolores schien keine Notiz von mir zu nehmen. Sie lag auf dem Bett, unter dem Madonnenbild an ihrer Wand. Sie drehte sich auf die Seite, von mir fort, und zog sich das Laken über die Schulter, aber trotz des Lakens und der Decke, die noch über ihr lag, sah ich sie zittern. Der Stuhl, nach dem meine Tante gegriffen hatte, lag rücklings neben dem Bett wie ein totes Tier. Auf dem Resopaltisch standen zwei Gläser und eine halbe Flasche Wein, daneben ein zweiter, noch aufrechter Stuhl. Ich weiß noch, dass ich mich unsinnigerweise fragte, ob mein Onkel auf dem Möbelstück gesessen hatte, das meine Tante danach als Waffe erkoren hatte. Dolores’ Stimme unterbrach diesen Gedanken. »Geh«, sagte sie. »Geh
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