Der Schmetterlingsthron
von denen die Priester Gorgolors die Tarxianer dreimal am Tag zum Gebet riefen, ragten an den Ecken des Gebäudes auf. Rings um den Tempel erstreckten sich Parks und Nebengebäude, zu denen auch der Palast des Theokraten gehörte. Vom Tempel neigte sich das Gelände zum Hafen mit seinen Docks und Schiffen und Seemannskneipen. Dort strömte der Spherdar nach Osten in den Großen Spraasumpf, sein Mündungsdelta.
Zwischen Tempel und Hafen lag das Viertel der finanzkräftigen Laienschicht Tarxias, wo auch Valdonius der Zauberer lebte. Gegen Mittag des 19. Tages im Monat der Krähe klopfte Jorian an die Tür von Valdonius’ Haus. Als der Hausmeister durch das Guckloch schaute, sagte er: »Ist Dr. Valdonius zu Hause?«
»Und wenn?« fragte der Mann, der Jorians heruntergekommene Erscheinung mit einem Blick erfasste. Am linken Arm trug Jorian ein Band mit der Aufschrift: LIZENSIERTER ANDERSGLÄUBIGER – ZEVATIST.
»Sag ihm bitte, dass ein Bote von Dr. Karadur ihn sprechen möchte.«
Das Guckloch wurde geschlossen, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Als Jorian eintrat, wich der Hausmeister naserümpfend zurück.
»Wenn du zwei Monate nicht gebadet hättest, würdest du genauso stinken, mein Junge!« knurrte Jorian.
Als Jorian in das Wohnzimmer geführt wurde, riss er die Augen auf. Von den beiden Männern, die dort beim Essen saßen, musste der große, kahle Mann Valdonius sein. Der andere war Karadur.
Valdonius sagte: »Seid gegrüßt, Herr Jorian. Man braucht kein Zauberer zu sein, um zu sehen, dass Ihr den Barbaren irgendwie entkommen seid.« Dann wandte er sich an Karadur: »Siehst du, alter Knabe, meine Zauberei hat gewirkt. Habe ich dir nicht gesagt, er würde gegen Mittag hier sein?«
»Seid gegrüßt, Dr. Valdonius«, sagte Jorian, ohne den Blick von Karadur zu wenden. »Was tust du hier, bei allen neunundvierzig mulvanischen Höllen? Als ich dich zum letzten Mal sah, ließest du mich und deinen Auftrag im Stich, um Cham Vilimirs Hofzauberer zu werden!«
Eine Träne rollte über das runzelige Gesicht des Zauberers. »Ah, mein Sohn, kreide es mir nicht zu sehr an! Es hätte dir nichts genützt, wenn man mich mit nach Xylar geschickt oder gar auf der Stelle getötet hätte! Was hätte ich denn tun sollen?«
»Du hättest zumindest Einspruch erheben und Vilimir mit schrecklichen übernatürlichen Ereignissen drohen können. Statt dessen hast du: ›Jawohl, Herr!‹ gekrächzt und mich in mein Schicksal ziehen lassen.«
»Aber du bist deinem Verderben doch entgangen!«
»Jedenfalls nicht dank deiner Hilfe. Und als du nun mit Vilimir über die Steppe in den Krieg galoppieren solltest, hast du dich davongeschlichen, weil es so gesünder und bequemer für dich ist, wie?«
»O nein, mein lieber Sohn! Ich musste den Barbaren täuschen, damit ich fliehen und dir nacheilen konnte …«
Valdonius unterbrach ihn lachend. »Dein junger Freund hat einen klugen Kopf auf den Schultern, Karadur!« rief er freundlich. »Herr Jorian, ich glaube, Euer Pfeil hat sein Ziel getroffen. Aber wenn Euch ein älterer Mann einen Rat anbieten darf, so nehmt nicht immer an, dass das einem Manne zugeschriebene Motiv stets das einzige ist, auch wenn Ihr richtig liegt. Denn Motive sind oft gemischt – Selbstinteresse mit Rechtmäßigkeit, Furcht vermengt mit Hoffnungen. Was wäre schon dabei, wenn der gute Vater Karadur einen Augenblick das Eigeninteresse über alles andere gestellt hätte? Ist es Euch nicht auch schon so gegangen? Außerdem ist er alt und schwach und kein energischer junger Held mehr wie ihr. Schließlich kann man von ihm nicht den Mut Ghishs des Großen oder Fusinians des Fuchses erwarten.«
»Ich bin kein Held«, knurrte Jorian, »sondern ein einfacher Handwerker, der sich am liebsten irgendwo niederlassen möchte. Trotzdem habe ich Karadur in den Dschungeln und Steppen nicht im Stich gelassen, obwohl ich es leicht hätte tun können. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Wie stehen die Dinge im Augenblick?«
Valdonius grinste: »Die Dinge haben einen interessanten Verlauf genommen. Aber mein guter Jorian, ich brauche keine übernatürlichen Ratgeber zu Hilfe zu ziehen, um zu sehen, dass Ihr zunächst drei Dinge am meisten wünscht – eine gute Mahlzeit, ein Bad und die Handreichungen eines Barbiers. Ist meine Vermutung richtig?«
»O ja, Herr. Wenn ich das Haar noch länger wachsen lasse, stolpere ich darüber. Und was das Bad angeht, so ist Euer Hausmeister fast in Ohnmacht gefallen, als er mich aus der
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