Der Schnee war schmutzig
das alles, was hier vor sich geht, nicht. Er blättert in Akten, findet ein paar Zettel und ordnet sie.
»Ich muß mit dir sprechen, Frank. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Warum fügt sie das hinzu? Wovor sollte er Angst haben?
»Ich habe in den letzten sechs Wochen viel nachgedacht.«
Schon sechs Wochen? Oder erst sechs Wochen? Die Zahl frappiert ihn. Er möchte Lotte weniger streng ansehen, aber er bringt es nicht fertig. Und sie wagt es nicht, ihn anzublicken, weil sie fürchtet, sonst in Schluchzen auszubrechen. Sieht er so furchtbar aus? Weil ihm zwei Vorderzähne fehlen und weil er sich nicht mehr pflegt?
»Ich bin sicher, Frank, wenn du etwas Schlechtes getan hast, sogar etwas Schlimmes, dann nur, weil du dich hast verleiten lassen. Du bist noch so jung. Ich kenne dich. Es war nicht richtig von mir, daß ich dich mit älteren Freunden verkehren ließ.«
Sie lügt schlecht. Dabei kann sie an sich gut lügen. Wenn sie von ihren Kunden oder von den Männern im allgemeinen spricht, brüstet sie sich gern damit, daß sie sie nach Belieben einwickeln könne. Lügt sie absichtlich schlecht, um ihm zu zeigen, daß sie nur auf Befehl hier ist?
Auf dem Hof steht kein Auto. Sie müssen also mit der Straßenbahn gekommen sein.
»Seriöse Leute haben mich beraten, Frank.«
»Wer?«
»Herr Hamling zum Beispiel.«
Wenn sie diesen Namen nennt, darf sie es.
»Ich weiß zwar, du magst ihn nicht, aber das ist verkehrt von dir. Du wirst es später verstehen. Er ist ein alter Freund von mir, vielleicht mein einziger Freund. Wir haben uns schon gekannt, als ich ein junges Mädchen war, und wenn ich nicht so dumm gewesen wäre …«
Frank hat die Augen zusammengekniffen. Es ist ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, den er noch nie gehabt hat. Wenn der Kommissar trotz Lottes mehr als verdächtigem Gewerbe sie so oft besucht, wenn er so tut, als ob er sie beschütze, und es sich herausnimmt, zu Frank zu sprechen, wie er es bisweilen getan hat – hat er dann nicht einen guten Grund dafür?
Frank ist fast so gereizt wie zu Anfang. Für einen Augenblick hat sein Gesicht wieder den bösen Ausdruck wie in seinen schlechtesten Tagen in der Grüngasse. Lotte, die ihm vielleicht ein Geständnis machen wollte, tritt den Rückzug an.
Das ist ihm auch lieber. Wenn Kurt Hamling zufällig sein Vater ist, will er es um keinen Preis wissen.
»Er hat sich immer für uns, für dich interessiert …«
Er fällt ihr ins Wort: »Schon gut.«
»Er kennt dich besser, als du glaubst. Auch er ist davon überzeugt, daß du dich hast verleiten lassen, daß du dich aber weigern wirst, es einzugestehen. Und wie er ganz richtig sagt, ist das ein falscher Ehrbegriff, Frank.«
»Ich habe keine Ehre.«
»Ich weiß, die Herren haben Geduld mit dir.«
Ach, was soll denn das bedeuten?
»Du durftest Pakete empfangen, und sie haben mir heute erlaubt, Minna mitzubringen, die sich deinetwegen Sorgen macht.«
»Ist sie krank?«
»Wer?«
»Minna.«
Warum reißt er Lotte aus ihrem Gedankengang? Sie weiß gar nicht mehr, was sie antworten soll, und versucht, den Chef mit einem Blick zu fragen.
»Nein, sie ist nicht krank. Wie kommst du darauf? Ich habe sie erst in der vergangenen Woche gründlich untersuchen lassen. Ein junger Arzt, der nichts davon versteht, wollte sie operieren. Aber das sei nicht notwendig, hat der andere gesagt. Es geht ihr schon besser.«
Er ahnt etwas Geheimnisvolles, Dunkles. Aufs Geratewohl sagt er: »Nun, sie hat ja jetzt Zeit, sich auszuruhen.«
Seine Mutter zögert. Warum? Dann wagt sie, da der Chef keinen Einspruch zu erheben scheint, die Bemerkung: »Wir haben das Geschäft wieder geöffnet.«
»Mit Mädchen?«
»Mit Minna und zwei neuen.«
»Ich dachte, dein Freund Hamling hätte dir geraten, es zu schließen?«
»Damals, ja. Er wußte da noch nicht, wieviel Schlimmes Anny angerichtet hat.«
Mit einemmal begreift er, warum sie hier sind. Er begreift alles. Der Chef läßt keine Chance ungenutzt.
»Hat man dich gebeten, das Geschäft weiterzuführen?«
»Man hat mir erklärt, es sei in jeder Hinsicht besser.«
Mit anderen Worten, die Wohnung in der Rue Verte ist eine Art Mausefalle geworden. Wer sieht auf Anweisung der Herren durch das Guckfenster und versucht, die Unterhaltungen zu belauschen?
Darum ist Lotte so verlegen …
»Dann geht also zu Hause alles gut«, sagt er leise ohne Ironie.
»Sehr gut.«
»Geht es Sissy besser?«
»Ich glaube, ja.«
»Hast du sie nicht gesehen?«
»Es gibt soviel
Weitere Kostenlose Bücher