Der Schnee war schmutzig
Zwei- oder dreimal hat er mit der Tochter des Brauereibesitzers Loeb geschlafen, der einer der reichsten und angesehensten Männer der Stadt war, und hat nichts davon gewußt. Tag für Tag entdeckt er durch den Chef neue verborgene Zusammenhänge.
»Ist sie weggegangen?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, sie war noch in der Wohnung, als ich verhaftet wurde.«
»Sind Sie dessen nicht sicher?«
Was soll er darauf antworten? Was wissen sie? Er hat nie Sympathie für Anny gehabt, die immer ein so verächtliches Gesicht machte – vielmehr ein so abwesendes, was noch schlimmer ist –, wenn er mit ihr schlief. Aber jetzt zählt das alles nicht mehr. Ist sie verhaftet worden? Haben sie eine richtige Razzia gemacht, seit er im Gefängnis sitzt?
»Ich nehme es an. Ich hatte am Tag zuvor getrunken.«
»Bei Timo?«
»Vielleicht. Und auch anderswo.«
»Mit Kromer?«
Der Kerl vergißt nichts.
»Mit vielen Leuten.«
»Bevor sie bei Ihnen Unterschlupf suchte, war Anna Loeb die Geliebte mehrerer Offiziere gewesen, die sie sich sorgfältig ausgewählt hatte.«
»Ach.«
»Mehr ihrer Stellung als ihres Aussehens oder ihres Geldes wegen.« Er antwortet nicht, denn dies war ja keine Frage.
»Sie stand im Sold einer ausländischen Macht und hat bei Ihnen Unterschlupf gesucht.«
»Für eine Frau, die nicht allzu schlecht aussieht, ist es nicht schwer, in ein Bordell aufgenommen zu werden.«
»Sie geben zu, daß es ein Bordell war?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Es gab Frauen, die sich mit den Kunden vergnügten.«
»Auch mit Offizieren?«
»Mag sein. Ich habe nicht vor der Tür Posten gestanden.«
»Auch nicht an dem Guckfenster?«
Er weiß alles. Er errät alles. Er muß die Wohnung gründlich inspiziert haben.
»Kannten Sie die Namen dieser Offiziere?«
»Nein.«
Sollte etwa die Abteilung des Chefs gegen die andere Abteilung arbeiten, jene, in der er mit dem Lineal geschlagen worden ist? Das Wort Offizier kehrt mit einer Häufigkeit wieder, die ihn stutzig macht.
»Würden Sie sie wiedererkennen?«
»Nein.«
»Manchmal blieben sie lange, nicht wahr?«
»So lange, wie sie brauchten, um das zu tun, wozu sie gekommen waren.«
»Sprachen sie?«
»Ich war nicht in dem Zimmer.«
»Sie sprachen«, behauptet der Chef. »Männer sprechen immer.«
Man könnte glauben, er habe soviel Erfahrung wie Lotte. Er weiß, worauf er mit seiner Geduld und Genauigkeit hinaus will. Er sieht weit. Er hat viel Zeit. Er ergreift behutsam ein Stück Faden und wickelt die Strähne auf.
Die Zeit der Essensausgabe ist vorüber. Frank wird wie fast jeden Tag in seinem Napf die schon eiskalte Suppe vorfinden.
»Wenn Frauen Männer zum Sprechen bringen, dann tun sie es, um anderen weiterzusagen, was sie gehört haben.«
Er zuckt die Schultern.
»Anna Loeb hat mit Ihnen geschlafen. Trotzdem behaupten Sie, sie habe Ihnen nichts gesagt. Sie ging nicht aus, und dennoch hat sie Briefe abgeschickt.«
Es dreht sich ihm alles im Kopf. Er muß aber durchhalten, bis er sein Bett erreicht und sich mit geschlossenen Augen und dröhnenden Ohren auf die Bretter preßt und dann hört, wie das Blut in seinen Adern fließt und spürt, daß sein Körper lebt. Und er wird endlich an etwas anderes denken als an all diese dummen Geschichten, denen er es aber gerade verdankt, daß er durchhalten kann, daß er an ein Fenster denken kann, an vier Wände, an ein Zimmer mit einem Bett und einem Ofen – er wagt nicht hinzuzufügen: an eine Wiege –, an einen Mann, der morgens weggeht und weiß, daß er wiederkommt, an eine Frau, die dableibt und weiß, daß sie nicht allein ist, daß sie nie allein sein wird, an die Sonne, die immer an derselben Stelle aufgeht und untergeht, an eine Blechdose, die man wie einen Schatz unter dem Arm trägt, an graue Filzstiefel, an eine blühende Geranie, an Dinge, die so einfach sind, daß niemand sie kennt oder daß man sie verachtet, und daß man sich sogar beklagt, wenn man sie besitzt.
Seine Zeit ist so knapp bemessen.
3
Das Verhör heute nacht war besonders anstrengend. Man muß ihn mitten in der Nacht geweckt haben, und er war immer noch in dem Büro, als man auf dem Hof eine Salve hörte und dann wie üblich einen einzelnen leiseren Knall. Er sah zum Fenster und bemerkte, daß es dämmerte.
Dies Verhör gehörte zu den wenigen, bei denen er beinahe ungeduldig geworden wäre. Er hatte das Gefühl, daß man es absichtlich in die Länge zog, daß man ihm aufs Geratewohl Fragen stellte. Unter anderem hat man
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