Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
in den Unterleib gerammt und diesen mit Schnee kaschiert, so war der Schneemann zu seinem Zeugungsorgan gekommen. Schnee und Wind hatten das Ding noch anschwellen lassen.
    Garin tat ein paar Schritte rückwärts, ohne den Blick von dem Schneeriesen zu wenden. Dessen Bereitschaft, seine Umwelt zu penetrieren, schien unerschütterlich. Der Doktor sah dem Schneemann in die Pflastersteinaugen. Der Schneemann erwiderte den Blick. Dem Doktor sträubten sich die Nackenhaare, ihn packte das kalte Grausen.
    Schreiend rannte er davon.
    Rannte, stolperte, fiel hin und stand wieder auf, stöhnend vor Entsetzen, rannte und rannte.
    Rannte so lange, bis er gegen etwas prallte, zur Seite kippte und lang hinschlug. Von dem harten Schlag gegen die Brust blieb ihm die Luft weg, schwanden die Sinne; bunte Ringe tanzten vor seinen Augen, er röhrte vor Schmerz. Es verging einige Zeit, bis er wieder merkte, dass er fror, den Blick scharf stellen konnte. Er sah seine in die Pelzmütze verkrallte rechte Hand. Setzte sich auf, drückte die Mütze auf seinen Schädel.
    Der Schüttelfrost hatte ihn wieder. Zitternd, die Hand am geprellten Brustbein, stellte der Doktor sich auf dieFüße. Vor ihm ragte ein Birkenstumpf aus dem Schnee, wie eine dieser alten schwarz-weiß gestreiften Wegsäulen mit Werstangabe. Der Doktor hielt sich daran fest, als fürchtete er, wieder umzufallen. Drückte die Brust gegen die Rinde und blieb so stehen. Sein Atem ging schwer. Der Baum war alt, die Rinde rollte sich ab. Der Doktor blies seinen Atem in sie hinein, sog ihren Duft beim Einatmen auf. Der Stamm, so kalt er war, roch nach Sauna.
    »Eine weiße Birke, zitternd, ohne Blatt … hochweiß … holzfrei …«, nuschelte er in den Birkenbast.
    Ich muss mich bewegen, sonst erfriere ich, dachte er aufschreckend. Stieß sich ab von dem Stumpf, lief hinein in das unaufhörlich rieselnde Weiß.
    Stapfte, ohne sich um den Weg zu bekümmern, durch den tiefen Schnee, stolperte und fiel, stand wieder auf, lief und lief und lief. Ihm voraus, zu beiden Seiten und in seinem Rücken blieb sich alles gleich: finstere Nacht und fallender Schnee. Der Doktor lief weiter.
    Allerdings wurden seine Bewegungen träger, aus den Gruben fand er nur noch mit Mühe heraus, taumelte und stürzte immer öfter. Der Schnee hielt ihn fest, gab die Beine, die steif waren und kaum mehr gehorchen wollten, nicht frei. Immer langsamer kam der Doktor voran. Vergrub die eisigen Hände in den nassen Handschuhen tief in die Parkataschen und lief, Rücken krumm, Kopf eingezogen, trotzig weiter.
    Die Knie wurden ihm weich. Er lief und konnte doch die Füße kaum noch heben.
    Und als er schon nahe daran war, zu fallen und liegen zu bleiben, sich zu ergeben diesem ewig an ihm zerrenden, klammernden und klebenden Weiß, da stand ihm plötzlich etwas im Weg. Er riss die vom Frost verklebten Wimpern auseinander und sah vor sich, unverkennbar trotz der Finsternis, die mit Rosenranken bemalte,an den Kanten lädierte Rückwand des Mobils. Traute seinen Augen nicht, doch die Hände konnten sie fühlen. Gegen die Wand gelehnt, stand er da und keuchte. Wagte es, darüber hinwegzusehen: Der Bock war leer, das Mobil unbesetzt.
    Und wieder wollten sich dem Doktor die Haare unter der Pelzmütze sträuben vor Entsetzen, als er erkannte, dass der Krächz auf und davon war, sein Mobil im Stich gelassen hatte und den Doktor sowieso, ein für alle Mal, und dass der Doktor nun ganz allein mit sich war in dieser Weite, dieser Kälte, diesem Schnee. Und das war sein Tod.
    »Der Tod …«, röchelte er und hätte vor Mitleid mit sich selbst am liebsten losgeheult.
    Doch dazu fehlten ihm die Tränen, es fehlte die Kraft. Er sank vor dem Mobil auf die Knie.
    Dann war es ihm, als hörte er in der Nähe ein Pferd wiehern, ein kleines Pferd. Er hielt es für eine Täuschung.
    Seine angefrorenen Lippen bebten, brachten nun doch ein Schluchzen hervor.
    Und erneut wieherte das Pferd. Ganz in der Nähe. Er drehte den Kopf. Ringsum Schwärze – tödlicher, gnadenloser Raum. Darinnen ein wieherndes, schnaubendes Pferd. Und dieses Wiehern kannte er: So hatte der kecke Rotschimmel des Fuhrmanns geklungen. Und das Wiehern kam aus dem Mobil. Der Doktor glotzte.
    Plötzlich fiel ihm auf, dass die Matte, die über die Kaube gezogen war, sich unnatürlich beulte. Man hätte es für eine Schneehaube halten können. Doch als der Doktor die Matte berührte, bewegte sie sich. Er lupfte den Rand.
    Aus dem Innern der Kaube drang warmer

Weitere Kostenlose Bücher