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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Schnee. Auf die Chinesen gestützt, versuchte der Doktor sich zu erheben. Doch gleich darauf sackte er wieder in den Schnee, die Beine gehorchten ihm nicht. Er spürte sie nicht einmal.
    »Xie-xie ni«, krächzte er, durch den tiefen Schnee robbend.
    Der ältere der Chinesen kratzte sich den Nasenrücken.
    »Tragt ihn zum Zug«, befahl er.
    »Und was ist mit dem? Soll der auch mit?«, fragte der Jüngere, auf den Toten deutend.
    »Du weißt doch, Hyun, mein Ross mag keine Leichen«, sagte der Ältere mit einem feinen, stolzen Lächeln und warf den Kopf in den Nacken.
    Der Jüngere folgte der Geste instinktiv mit den Augen – dahin, wo in etwa hundert Meter Entfernung ein Pferd stand, ein Apfelschimmel, so riesig wie ein dreistöckiges Haus. Gespannt vor einen Schlittenzug, der aus vier ausladenden Waggons bestand, einem grünen für Passagiere und drei blauen für Lasten. Das Zugtier trug eine rote Pferdedecke, es blies Dampf aus den großen Nüstern, man hörte es bis hierher. Über ihm kreisten ein paar Krähen, ließen sich dann und wann auf dem roten Rücken nieder. Die weiße Mähne des Pferdes war sorgfältig geflochten, die Stahlringe des Geschirrs funkelten in der Sonne.
    Zwei weitere Chinesen in grünen Uniformen kamen geeilt. Zu vieren ergriffen sie den Doktor und trugen ihn hinüber.
    »Xie-xie ni, xie-xie ni«, röchelte der Doktor, der seine empfindungslosen, fremd und unnütz sich anfühlenden Beine immer noch keinen Deut zu bewegen vermochte.

    Und plötzlich, da er begriff, dass der Krächz ihn ein für alle Mal im Stich gelassen, die Reise nach Dolgoje kein glückliches Ende genommen hatte, die Vakzine zwo nicht dahin gebracht waren, wo sie gebraucht wurden, und in seinem, Platon Iljitsch Garins Leben nun allem Anschein nach etwas Neues begann, etwas, das gewiss nicht leicht, nein, das vermutlich sehr hart und schwierig werden würde, so wie er es sich früher nicht einmal vorzustellen vermocht … – da konnte er nur noch losheulen.
    »Xie-xie ni, xie-xie-nihi-hiiih …«, heulte der Doktor und schüttelte heftig den Kopf, so als wäre er mit allem, was sich hier begab, ganz und gar nicht einverstanden.
    Die Tränen rannen ihm über die stoppligen, eingefallenen Wangen. Seine Hand presste den Kneifer, und er schüttelte sie, schüttelte sie so inbrünstig, als dirigierte er ein unsichtbares Trauerorchester, schluchzte und schwankte, während ihn die kräftigen chinesischen Arme davontrugen.
    Derweil stand der ältere Chinese noch beim Krächz und betrachtete ihn, der einsam in der verwaisten Kaube lag wie in einem viel zu groß bemessenen Sarg. Die Hände in den Handschuhen hatte er zur Brust gezogen, so als hielte er darin immer noch seine Pferdchen und behütete sie; ein Bein untergeschlagen, das andere steif und sonderbar abgespreizt.
    »Sieh nach, was er in den Taschen hat«, befahl der ältere Chinese dem jüngeren.
    Der kam dem Befehl mit sichtlichem Widerwillen nach. In der Joppentasche fanden sich ein Silberrubel, vierzig Kopeken in Kupfer, ein Feuerzeug und zwei Brotrinden. Einen Ausweis trug er nicht bei sich. Der Chinese schob die Hand unter den steif gefrorenen Pelz und ertastete zwei Schnüre, die der Krächz um den Halshängen hatte: An der einen hing ein kupfernes orthodoxes Kreuz, an der anderen ein Schlüssel. Es war der vom Pferdestall. Der Chinese riss den Schlüssel ab und reichte ihn dem Älteren. Der drehte den Schlüssel kurz in den Händen und warf ihn in den Schnee.
    »Deck ihn zu«, sagte er.
    Der Jüngere ergriff die Matte, die vom Frost hart und steif wie Sperrholz war, und deckte sie über die Kaube. Der Ältere wies auf den Sack mit den Pferden, dann lief er los in Richtung Zug. Der jüngere Chinese griff nach dem Sack, warf ihn sich über die Schulter und folgte ihm. Die Pferde, die in der Finsternis des Sackes schon zur Genüge baldowert und sich die Seele aus dem Leib gewiehert hatten, auch schon gestrullt und sich ein bisschen beruhigt, reagierten nur mehr mit Fauchen und Schnauben. Einzig der unermüdliche kleine Rotschimmel wieherte ein letztes Mal hell und scharf und nahm so Abschied von seinem Herrn.

Das Buch
    Eine verzaubernde Parabel über das heutige Russland
    Was beginnt wie eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert, entpuppt sich als fantastische Irrfahrt durch das ländliche Russland einer nahen Zukunft. Ein überraschend zartes Buch des bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellers Russlands.
    Garin, ein Landarzt, will so schnell wie möglich in den

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