Der Schneesturm
fiel hin, die Taschen entglitten seinen Händen. Er kämpfte sich aus dem Schnee, nahm die Taschen wieder auf, kletterte aus der Grube, lief ein paar Schritte zurück, konnte die eigenen Spuren im Dunkel kaum erkennen. Fand zur Straße zurück, hielt sich nun weiter rechts, doch da war wieder eine Grube, tiefer als die vorige.
Vielleicht ein Hang?, schoss es ihm durch den Kopf.
Anscheinend führte die Straße hier durch tiefe Gräben.
»Oder biegt sie ab?«, murmelte der Doktor keuchend.
Er kletterte hinauf, lief ein Stück, rutschte wieder ab. Gräben und Schluchten überall, wo man auch hinlief.
Wo war die verdammte Straße? Er rückte die über die Augen gerutschte Mütze zurecht.
Behutsamer nun tastete er mit dem Fuß vor, wollte kein weiteres Mal abrutschen. Unter dem Schnee waren Huckel, es hatte wenig Ähnlichkeit mit einer Straße. Sie schien sich in den Gräben verloren zu haben.
Die Suche hatte Kraft gekostet. Er kauerte sich in den Schnee, spürte die Kälte an den Füßen.
»Verflucht und zugenäht!«, brummte er.
Ein Weilchen hockte er so, dann erhob er sich, griff nach den Taschen. Entschlossen, die verdammten Schluchten geradewegs zu durchqueren und so vielleicht wieder auf die Straße zu stoßen. Das erwies sich als schwierig: Alle paar Schritte fiel er hin, rappelte sich auf, rutschte, kämpfte sich wieder hervor. Die Straße war nicht zu finden. Die Gräben hatten sie geschluckt.
Völlig verausgabt setzte er sich in den Schnee. Saß da und sah zu, wie er einschneite. Immer mehr Schnee fiel aus dem schwarzen Himmel, tilgte seine Spuren, deckte ihn zu.
Langsam dämmerte er weg, die Kälte griff nach ihm.
»Bloß nicht einschlafen«, murmelte er, stand auf und setzte seinen Weg schwerfällig fort.
Die Schluchten nahmen kein Ende. Nach dem wer weiß wievielten Sturz blieb er seitlich liegen und rutschte, die immer schwerer werdenden Taschen hinter sich herschleifend, voran.
Bis er auf einmal festen, glatten Grund unter den Füßen spürte.
»Da ist sie ja!«, rief er freudig, mit krächzender Stimme.
Der Schlucht entronnen, wieder auf der Straße, musste er erst einmal durchatmen, die Taschen im Schnee abstellen.
»Dank, o Herr!«, sagte er und bekreuzigte sich.
Er nahm die Taschen auf und lief wieder los. Doch er war noch keine zwanzig Meter gegangen, da schälte sich über ihm aus Schnee und Schwärze etwas heraus, das bedrohlich erschien. Die Augen weit aufgerissen, erblickte der Doktor etwas wie einen schräg aufragenden schneeverklebten Pfahl. Er ging im Bogen darum herum und gewahrte plötzlich hinter dem Pfahl noch etwas ungleich Größeres und Breiteres; es nahm die ganze Straßenbreite ein, und besagter Pfahl stand aus ihm hervor. Vorsichtig näherte der Doktor sich dem rätselhaften Objekt. Es war vollkommen eingeschneit und ragte in ungewisse Höhen. Der Doktor ließ die Taschen fallen und putzte mit dem Schal seinen Kneifer, legte den Kopf in den Nacken und schaute. Begriff jedoch immer noch nicht, was das war. Glaubte zuerst, einen spitz nach oben zulaufenden Heuschober mit Schneehaube vor sich zu haben. Doch als er mit der Hand daran rührte, wurde klar, da war kein Heu darunter, das Ding bestand ganz aus Schnee. Der Doktor wich ein paar Schritte zurück und glotzte. Es dauerte seine Zeit, bis er im oberen Teil des Schneeungetüms Gesichtszüge erkannte und ihm aufging, dass da ein gigantischer Schneemann stand – mit einem Riesenphallus.
»Großer Gott«, murmelte der Doktor und schlug gleich noch einmal ein Kreuz.
Der Schneemann, dessen Phallus beängstigend über Doktor Garins Kopf schwebte, hatte die Höhe eines zweistöckigen Hauses. Er schaute herab mit zwei Pflastersteinaugen, die der unbekannte Meister in den runden Kopf gedrückt hatte. Als Nase diente ein Espenstumpf.
»Allmächtiger«, murmelte der Doktor und nahm die Mütze ab.
Ihm war auf einmal heiß. Der tote Riese im Schnee war ihm eingefallen, in dessen Nasenloch das Mobil stecken geblieben war. Er hatte den Schneemann gebaut, keine Frage. Sein letzter Gruß an die Menschheit, die zu fern und zu gleichgültig gewesen, ihn vor dem Tod zu bewahren. Und Schnee war das einzige vorhandene Material für diese Hinterlassenschaft.
Der Doktor schwenkte die Hand mit der Mütze nach oben, doch an den großen weißen, bedrohlich ins Dunkel zielenden Dödel reichte er nicht heran. Vom Himmel fiel der Schnee auf das Gerät und auf Doktor Garins unbedecktes Haupt. Der Großmensch hatte dem Schneemann einen Pfahl
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