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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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nennen. Voriges Jahr ließ Patuschka im Garten ein Schwimmbassin anlegen. Eine Menge Leute in Peking haben das jetzt, und es kostete ihn fast nichts, weil er Arbeiter und Baumaterial von der Eisenbahn bekam. Als das Bassin fertig und Wasser eingelassen war, stieg die ganze Familie hinein, ohne jeden Schwimmanzug. Ich hatte einen mit, zog ihn aber nicht an. Ich wollte nicht als einzige ein Trikot tragen, wenn alle anderen nackt waren. Dann lagen wir im Gras und sonnten uns. Es war herrlich. Aber stell dir nur das Entsetzen der Missionare vor, zu denen Papa mich früher geschickt hat.»
    «Das russische Affenhaus mit seiner Bademode à la ist sicherlich amüsanter. Und solange keine Schlange sich einschleicht, ist gewiß nichts dabei.»
    «Sie sind wirklich furchtbar komisch. Statt zu behaupten, sie wären gute Menschen, wie die Missionare, erzählen sie dir stundenlang, was für entsetzliche Sünder sie sind. Und dann schlagen sie sich an die Brust und rufen: »
    «Wenn das alles stimmt, was du mir da erzählst, so treiben sie nicht um ein Haar weniger religiöse Götzendienerei als die Missionare.»
    «Sie halten sich für ungemein fromm, gebärden sich aber niemals erhaben oder feierlich. Eigentlich ist alles nur Spiel. Wenn sie mit dem Aufzählen ihrer Sünden fertig sind, setzt sich Matuschka ans Klavier, Patuschka holt die Violine, und dann musizieren sie und singen und tanzen und sind überglücklich.»
    «Unbeschreiblich kindisch! Singen sie wenigstens gut?»
    «Prachtvoll! Alles andere versinkt, wenn sie anfangen. Sie haben keine besonders schönen Stimmen und unterbrechen sich oft, um zu streiten, weil sie schlecht Takt halten. Aber beim bloßen Anhören des Liedes der Wolgaschlepper kommen mir die Tränen, obgleich ich 1 finde, daß das Lied von einem großen Chor gesungen werden müßte, von einem Männerchor. Wirklich gutes Musizieren gibt mir nicht halb so viel. Ich glaube, es liegt etwas Kindliches in ihrem Gesang, wie in allem, was sie tun. Es ist, als nähme ein kleines Kind mein Herz in die Hand, um ganz sanft damit zu spielen. Dann singen sie Wander- und Kriegslieder, mit einem wilden Rhythmus, der ins Blut geht. Man glaubt das Klappern der Sättel zu hören, das Donnern der Hufe und das Aneinanderklirren der Steigbügel. Diese Musik macht sie anscheinend toll. Wenn Patuschka solche Melodien hört, fängt er sofort an zu tanzen. Er verrenkt den Oberleib, als wäre sein Körper aus zwei Teilen zusammengesetzt, beugt die Knie, hockt sich nieder bis fast auf den Boden und stößt einen Fuß um den anderen seitwärts. Ich habe es auch versucht, aber es ist sehr schwer.»
    Kuniang bemühte sich, Patuschkas russischen Nationaltanz nachzuahmen, indem sie mit gebeugten Knien niederhockte, als mache sie schwedische Übungen. Aber es endete damit, daß sie das Gleichgewicht verlor und auf den Teppich purzelte.
    «Patuschka muß ungemein gelenkig sein», sagte ich lächelnd. «So ein Tanz eignet sich sonst kaum für ältere Herren. Beteiligen sich auch die anderen daran?»
    «Nein. Ich glaube, Matuschka könnte es, aber sie muß am Klavier bleiben. Und Fjodor und Natascha haben’s nicht gelernt. Aber Fjodor wird jedesmal schrecklich aufgeregt. Er küßt mich und streichelt mich und zieht mich neben sich aufs Sofa. Niemand achtet darauf. Aber wenn Besuch da ist, ist es mir nicht sehr angenehm: verstehst du — wo meine Kleider doch so kurz sind.»
    Ich verstand.
     
     
     

5
     
    Manchmal denke ich darüber nach, wie Kuniangs Charakter, Kuniangs geistige und körperliche Entwicklung von jenen Romanschriftstellern zergliedert und geschildert worden wäre, die sich seit einigen Jahren für die Sexualpsychologie Jugendlicher spezialisiert haben und über «Selbstmordtriebe morbider Jugend» schreiben. Trotz der ungewöhnlichen Umgebung, in der das Mädchen auf wuchs, wäre jeder, der das erste Knospen ihrer erwachenden Sexualität zu einträglicher Prosa hätte verarbeiten wollen, bitter enttäuscht worden.
    Kuniangs Erziehung legte ihr keinerlei Fesseln an. Nichts blieb ihr verborgen. Niemand versuchte, ihre natürlichen Instinkte, ihre Neugier zu unterdrücken. Sie wußte alles, Was wissenswert ist, und zwar noch ehe sie wußte, daß etwas anstößig oder unanständig sein kann. Keine Eltern waren zur Hand, die sie im Notfall vor sich selbst geschützt und die altgewohnten Pfade der Konvention geführt hätten. Ich bezweifle sehr, daß sie sich je zur Ansicht

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