Der Schneider himmlischer Hosen
Kuniang. Aber die meisten russischen Bücher sind irgendwie krankhaft, und es ist ein Fehler, sich mit den Greueln zu quälen, die drin vorkommen.»
«Ich erzähle dir ja nur, worüber ich mich entsetze. Und zwar nicht bloß über Dinge, die ich lese, sondern auch über solche, die ich sehe. Kennst du die kleinen Garküchen dicht vor den Toren der Tatarenstadt? Die Landleute treten dort ein, um etwas zu essen, bevor sie in die Stadt gehen. Und zu ihren Füßen sitzen die herrenlosen Hunde und warten, daß etwas zu Boden fällt. Ist dir nicht aufgefallen, daß diese Hunde nie aufschauen und , wie zum Beispiel Onkel Podger? Sie wissen, daß es sinnlos ist, einen Menschen zu bitten, er möge ihnen etwas geben. Noch nie hat ihnen jemand etwas gegeben. So heben sie nicht einmal den Kopf. Nur wenn etwas zu Boden fällt oder weggeworfen wird, können sie es vielleicht aufschnappen. Sooft ich an diese hungernden Hunde denke, die in einer Wolke von Speisengeruch mit gesenktem Kopf dasitzen, immer mit gesenktem Kopf, kommen mir vor Mitleid die Tränen. Hat denn niemand den Leuten beigebracht, daß sie gut sein sollen, schlicht und einfach gut?»
Ich stand auf, ging zum Bücherschrank und entnahm ihm ein Buch. Es war «Die Leuchte Asiens» von Sir Edwin Arnold. Dann beantwortete ich Kuniangs Frage: «Doch. Solch einen Menschen hat es gegeben. Es war ein indischer Prinz namens Siddhartha. Er suchte einen Weg, um die Menschen von Grausamkeit und Leiden zu befreien. Tage, Monate, Jahre fastete und meditierte er, kämpfte darum, seine Seele zu läutern, um Weisheit zu lernen und die Mitmenschen zu lehren. Zuzeiten verweilte sein Geist bei den vergänglichen Gütern dieser Erde, und er erkannte, daß er nur seinen Zielen treu bleiben müsse, um der Welt das Heil zu bringen. Aber ein Schäfer zog mit seiner Herde vorbei, der trug zwei Lämmer in den Armen, die nicht nachkommen konnten. Sie waren nicht die einzigen:
In der Herde war
Ein Mutterschaf mit Zwillingslämmern; eins
Von diesen hätt’ ein spitzer Stein verletzt,
Und mühsam hinkt’ es blutend hinterher,
Dieweil das andre lustig sprang voraus.
So rannte nun in Sorgen hin und her
Die Mutter, bald in Furcht, das eine, bald
Das andre zu verlieren. Als der Herr
Dies sah, nahm liebreich das verletzte Lamm
Auf seine Schultern er und sprach: «Nur still,
Du arme woll’ge Mutter, sei getrost!
Wohin du gehst, dahin will tragen ich
Dein Sorgenkind; gleich gut wohl wär’s, den Schmerz
Nur eines Tiers zu sänftigen, als dort
Zu sitzen, um die Schmerzen einer Welt
Zu grübeln in der Höhleneinsamkeit
Bei jener Priester düster-wildem Flehn.»
Ich stellte das Buch an seinen Platz zurück. Kuniang sah mir wortlos zu. Ihre Augen waren hell und leuchtend: wie Sterne in einer Frühlingsnacht.
Häusliche Sorgen
Mein Garten und die Dächer der Pavillons beherbergen eine Menge verschiedener Vögel, wie Stare, Wiedehopfe und Spechte von verschiedener Größe und Farbe. Zahlreicher aber sind Spatzen vertreten, Krähen und Elstern, die meinen, daß alles nur für sie da sei. So blind glauben sie an ihr Herrenrecht, daß sie sich kaum die Mühe nehmen, mir aus dem Wege zu gehen, wenn ich daherkomme. Im Frühjahr, vor der Regenzeit, hüpfen die Spatzen dem Gärtner nach, wenn er die Blumen gießt, und setzen sich nieder, um zuzusehen, wie er den Schlauch aufrollt und den Hahn öffnet; sie können es kaum erwarten, daß er fertig wird, und dann hopsen sie herunter und trinken und baden in den Pfützen.
Hoch oben unter der Dachtraufe des Wächterhauses an der Tatarenmauer haust ein Falkenpärchen; manchmal kreisen sie über meinem Garten, doch die Krähen tun sich rasch zusammen und verjagen sie. Diese Krähen haben ihre Nester in den Zweigen der Pinien, die in meinen Höfen wachsen, aber tagsüber fliegen sie aus, um die Straße zu reinigen. Manchmal beobachte ich sie, wie sie des Abends nach Hause kommen und schlafen gehen. Wenn der Sandsturm bläst, sehe ich zu, wie sie mit den Flügeln gegen den Wind schlagen und zurückgeworfen werden, sobald ein stärkerer Stoß kommt.
Vor einigen Jahren schenkte mir ein Freund einen zahmen Reiher, den ich im Garten halte. Seine Flügel sind gestutzt, damit er nicht wegfliegen kann. Er stolziert würdevoll umher und stößt heisere Schreie aus, womit er seine unbeschreibliche Langweile zum Ausdruck bringt. Allerdings besteht auch seine einzige Abwechslung darin, daß ihn Onkel Podger unter den hussenden
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