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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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geantwortet, es sei bisher noch keine Entscheidung gefallen. Sie konnte nicht verstehen, warum ich wütend wurde.
    «Schließlich ist die Frage doch nur natürlich», meinte sie. «In meinem Alter sind die meisten Chinesinnen schon verheiratet oder werden als Konkubinen ins Haus genommen.»
    «Liebe Kuniang, ich finde derartige Bemerkungen deinerseits vorwitzig und nicht eben geschmackvoll. Vergiß nicht, daß du in einem anständigen europäischen Hause lebst und in einer Klosterschule erzogen worden bist. Was würden die Nonnen sagen, wenn sie so etwas hören müßten!»
    «Für eine Nonne in China ist so etwas noch lange kein Grund, sich zu entsetzen. Ihr einziger Kummer war meine Bekleidung in der Sommerhitze. Sie wollten mich nicht ohne Strümpfe in die Schule gehen lassen, und ich mußte ein Jäckchen tragen, um die nackten Arme zuzudecken. Einmal, im Juni, schickten sie mich mit Schimpf und Schande nach Hause, weil ich nur ein Kattunkleid und nichts darunter anhatte. Andererseits sind sie mit den Frauen, die in dem weißen Haus gegenüber dem österreichischen Glacis wohnen, sehr befreundet. Eine von ihnen wäre verhungert, hätten sich nicht französische Nonnen ihrer angenommen; sie schenkten ihr Kohle und Essen und verschafften ihr Kleider. Sie konnte nämlich nicht arbeiten, die Arme, weil sie von einem Amerikaner angesteckt worden ist.»
    «Kuniang», sagte ich, «möchtest du mir nicht sagen, ob du je im Leben sittlich entrüstet gewesen bist?»
    «Ich glaube», meinte sie nach einer Pause, «daß sich die Menschen über ganz verschiedene Dinge entrüsten. Die Nonnen hielten sich über meine nackten Arme und Beine auf. Du entrüstest dich über meine Worte. Ich habe geglaubt, daß meine Russen sich über nichts in der Welt entsetzen, bis Fjodor an der Kerze, die er am Weihnachtsabend in der Kirche halten sollte, eine Zigarette anzündete. Damals gab es einen fürchterlichen Krach. Die Fünf Tugenden sind jederzeit sittlich entrüstet. Sie besitzen eine kleine Elfenbeinstatue, eine nackte Frau (und nicht einmal die ist ganz nackt), die sie dem Arzt zeigen, wenn er die Alte Gebieterin oder die Mutter des Kleinen Lu besucht. Ist nämlich eine von ihnen krank, so zeigt sie auf der Elfenbeinstatue die Stelle, die ihr weh tut.. Auf diese: Weise vermeidet sie es, sich dem Arzt unbekleidet zu zeigen. Sie waren alle ganz entsetzt, als vorigen Monat der Doktor kam und mein Bäuchlein abgriff, damals, als ich mir, den Magen verdorben hatte.»
    «Schön. Und wie steht es mit dir? Bist du niemals entsetzt?»
    «O ja. Sogar ziemlich oft. Aber nicht über solche Sachen, Wenn Leute schlecht und grausam sind, dann bin ich entsetzt. Alles andere scheint so unwesentlich.»
    «Kannst du mir etwas nennen, was dich sittlich entrüstet hat?»
    «Es gibt da einen französischen Roman, er heißt . Über den war ich entsetzt.»
    «Wirklich?»
    «Der Inhalt an sich ist nur blöd. Ich glaube kaum, daß ein Mann von einer Frau, die er leibhaftig haben kann, lieber träumt Und das will uns Demetrios weismachen. Entsetzt war ich über den Teil, der von den Sklavinnen handelt. Da kommt ein Mädchen vor, Aphrodysia, die wird ans Kreuz geschlagen. Das ist entsetzlich. Und eine andere, die muß jedes Jahr ein Kind bekommen. Aber sie darf es nur. behalten, wenn es ein Mädchen ist. Doch sie bekommt drei Söhne, und die werden gleich nach der Geburt getötet, weil man im Hause einer Kurtisane männliche Sklaven nicht brauchen kann. Dieses arme Geschöpf mit ihren drei Kindern geht mir nicht aus dem Kopf.»
    «Du solltest eben keine solchen Bücher lesen, mein liebes Kind.»
    «Matuschka hat, mir erzählt, daß sie in meinem Alter die Geschichte eines taubstummen Riesen nicht vergessen konnte, die in einem Buch von Turgenjew vorkommt. Der Riese hieß Mumu, und sein einziger Gefährte, sein einziger Lebensinhalt, war eine Jagdhündin, die er von ganzem Herzen liebhatte. Aber eines Tages erklärte Mumus Herrin, der Hund müsse vertilgt werden, weil sein Bellen sie störe. Dem armen Mumu blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Er führte seinen Hund an den zugefrorenen Fluß und stieß ihn hinein, bis er unter dem Eis versank. Matuschka sagt, daß die Geschichte des armen taubstummen Mumu, der mit dem Hund in den Armen auf einem Stück Eis steht, während ihm die Tränen übers Gesicht laufen, weil er das Tier ertränken muß, der erste Nagel zum Sarg des alten Rußland war, in dem alle Bauern als Sklaven galten.»
    «Mag sein,

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