Der Schneider himmlischer Hosen
durfte nur eine Kaiserin vollziehen. Mit dem Sturz der Monarchie verschwand der Seidenwürmerkult und mit ihm das uralte Ansehen der Weber und Sticker. Heute hat die Pracht einer Jahrhunderte überdauernden Kunst, der Glanz einer kaiserlichen Tradition die letzte Zuflucht in den kleinen Läden eines engen Gäßchens gefunden, im Süden der Tatarenmauer, nicht weit vom Heim der Fünf Tugenden.
Es gibt nur zwanzig Läden in der Seidenstraße. Derjenige, dessen Stammkunde ich bin, ist so winzig, daß man ihm allerhöchstens ein Lager im Wert von einigen hundert Dollar Zutrauen würde. Man betritt das Geschäft durch einen langen, schmalen Gang; dort liegt ständig ein großer schläfriger Hund, der aufwacht und ins Haus voranschreitet, knurrend, um seinem Herrn die Ankunft eines Kunden anzuzeigen. Der Laden selbst besteht aus zwei Zimmern, die jedes etwa so groß sind wie die Kabine eines altmodischen Dampfers und von Vorhängen bedeckte Stellagen haben, ähnlich den Betten eines Schlafwagens. Es bleibt gerade noch Platz, niederzusitzen und Tee zu trinken, während die Gehilfen (lauter Verwandte des Besitzers) die Seidenstoffe von den Regalen oder aus zwei rotlackierten Truhen holen. Da gibt es Samte und Brokate aus Nanking, Rohseide aus Schantung und geblümte Seide aus Kanton, gestickte Jacken und Gewänder, Damastrollen für Wände oder Wandschirme, buddhistische Ornate, Schleier und Bänder für tatarische und chinesische Kopfbedeckungen. Die unzähligen Stoffe, die in dem schmutzigen Zimmer aufgehäuft sind, blenden das Auge und ermüden die Sinne mit ihrem Reichtum an Farben und Mustern.
Der Besitzer heißt Kleiner Li. Man würde ihn für etwa fünfundzwanzig Jahre halten, aber er ist schon Großvater. Wir sprechen miteinander in einer Mischung von Pidgin-Englisch und Chinesisch und verständigen uns nicht immer, außer in der Hauptfrage des Preises. Viele Jahre kennen wir uns schon, und ich glaube, mir durch mein Interesse für alles Schöne in der Kunst der Seide sein Wohlwollen erworben zu haben, selbst über unsere Geschäfte hinaus.
Wenn ich dem Laden einen Besuch abstatte, sitzen wir an einem Tisch und trinken miteinander Tee; unterdessen holen die Gehilfen von den Regalen herunter, was seit meinem letzten Besuch neu eingelangt ist, desgleichen die Seiden und Stickereien, für die ich bereits ein Angebot machte, ohne daß wir uns über den Preis geeinigt hätten. Heute kennt der Kleine Li meinen Geschmack genau und weiß, wie er mich zum Kauf verführen kann. Hat er etwas besonders Schönes auf Lager, so behauptet er zuerst einmal, es gehöre nicht ihm, sondern seinem Bruder. (Der Bruder befindet sich eben auf Reisen.) Dann erklärt er, der Bruder verlange viel Geld dafür. So entwaffnet er meine Einwände gegen den unverschämten Preis und rechtfertigt seine Unlust, diesen Preis herabzusetzen.
Der ältere Bruder — er heißt Großer Li — reist im Innern des Landes umher, kauft Seiden von Provinzkaufleuten und Hofgewänder von verarmten Mandschufamilien. Ich zweifle nicht daran, daß er auch die Beute plündernder Soldaten kauft.
Meine Sammlung von Seidenstoffen hat einen stummen Kampf zwischen den Fünf Tugenden und mir zur Folge. Sie vertreten nämlich die Ansicht, daß für alles, was ich kaufe, an den K’ai-men-ti ein Zoll zu entrichten sei, und zwar in dem Augenblick, da er ins Haus kommt. Dieser Zoll beträgt je nachdem zehn bis fünfzig Prozent des Wertes; die sich daraus ergebenden Eingänge werden dann unter die Familienmitglieder verteilt. Ich hingegen bin der Meinung, daß ein Handel, den ich mit einem Kaufmann der Chinesenstadt abschließe, außer uns beiden niemanden etwas angeht. Daher halte ich mich für berechtigt, jegliche Steuer, die an der Schwelle meines Hauses gefordert wird) zu hinterziehen. So kommt es, daß jeder Einkauf beim Kleinen Li entsprechende Maßnahmen meinerseits zur Folge hat, um die Zahlung eines «Schmiergeldes» an meine Boys zu vermeiden. Wenn die Fünf Tugenden mit Bestimmtheit wüßten, wo ich die verschiedenen Stickereien gekauft habe, würden sie hingehen und einen gewissen Prozentsatz des Kaufpreises verlangen; und der Geschäftsinhaber hätte nicht den Mut, ihnen diesen Anteil zu verweigern. Da die Zahlung eines solchen «Schmiergeldes» den Preis naturgemäßwesentlich beeinflußt, erhalte ich im allgemeinen einen bedeutenden Nachlaß, wenn ich dem Kleinen Li verspreche, daß von dem zwischen uns geschlossenen Handel niemand Provision verlangen
Weitere Kostenlose Bücher