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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Ermahnungen bedrängte, die ihm auf den einsamsten Abschnitten seiner Reise in den Ohren klangen: Fahr langsamer, paß auf, da ist ein Hirsch, ein Affe, ein Bock, ein totes Pferd, ein meterlanger grüner Leguan, eine sechsköpfige Indiofamilie auf einem Fahrrad, Harry, ich verstehe überhaupt nicht, warum du mit hundert Sachen zu einer Verabredung mit einem Toten fahren mußt, und falls du Angst hast, du könntest das Feuerwerk verpassen, dann laß dir gesagt sein, daß das Fest fünf Nächte und fünf Tage lang dauert, und heute ist gerade mal die erste Nacht, und wenn wir’s bis morgen nicht schaffen, haben die Kinder volles Verständnis dafür.
    Zu all dem kamen Anas unaufhörliche Wehklagen und die furchtbare Nachsicht von Marta, die nichts von ihm erbat, was er nicht geben konnte; und Mickie, riesenhaft und finster, saß zusammengesackt auf dem Beifahrersitz, und wann immer sie in eine Kurve gingen oder über ein Schlagloch rumpelten, sank er mit seiner schwammigen Schulter gegen ihn, und immer wieder fragte er bekümmert, warum Pendel nicht Anzüge wie Armani schneidern könne.
    Wenn er an Mickie dachte, übermannten ihn seine Gefühle. Er wußte, daß er in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Freund gehabt hatte, und jetzt hatte er ihn umgebracht. Er sah keinen Unterschied mehr zwischen dem Mickie, den er geliebt, und dem, den er erfunden hatte, nur daß der Mickie, den er geliebt hatte, besser gewesen war, und der Mickie, den er erfunden hatte, so etwas wie eine mißlungene Huldigung gewesen war, ein Akt der Eitelkeit seinerseits: Er hatte seinen besten Freund zum Helden hochstilisiert, um Osnard zu zeigen, was für großartige Bekannte er hatte. Denn Mickie war ohnehin ein Held gewesen. Er hätte Pendels Redetalent gar nicht nötig gehabt. Mickie hatte sich, wenn es drauf ankam, offen als Gegner der Gewaltherrschaft bekannt. Er hatte sich Schläge und Inhaftierung reichlich verdient, nicht minder das Recht, danach zum Säufer zu werden. Und sich so viele Anzüge zu kaufen, wie er brauchte, um das Kratzen und den Gestank der Häftlingskleidung loszuwerden. Es war nicht Mickies Schuld, daß er schwach war, wo Pendel ihn als stark geschildert hatte, daß er den Kampf längst aufgegeben hatte, als er ihn nach Pendels Darstellung noch weiterführte. Hätte ich ihn doch nur in Ruhe gelassen, dachte er. Hätte ich doch niemals an ihm herumgepfuscht und ihn dann abgekanzelt, weil ich plötzlich Schuldgefühle hatte.
    Irgendwo am Fuß des Ancón Hill hatte er den Geländewagen mit soviel Benzin betankt, daß es für den Rest seines Lebens reichte, und dann einem schwarzen Bettler einen Dollar gegeben, einem Mann mit weißem Haar und nur noch einem Ohr, das andere mochte der Lepra, einem wilden Tier oder seiner ernüchterten Frau zum Opfer gefallen sein. In Chame durchfuhr er aus purer Unaufmerksamkeit eine Straßensperre des Zolls, und in Penonomé sah er vor seinem linken Scheinwerfer plötzlich zwei Luchse – Luchse sind junge, sehr schlanke, in Amerika ausgebildete Polizisten in schwarzen Lederuniformen, die zu zweit auf einem Motorrad fahren; sie tragen Maschinenpistolen und haben den Ruf, Touristen gegenüber höflich zu sein und Straßenräuber, Drogensüchtige und Attentäter zu töten; aber in dieser Nacht hatten sie es offenbar auch auf mörderische britische Spione abgesehen. Der vorn sitzende Luchs hält den Lenker, der auf dem Sozius erschießt die Opfer, hatte Marta ihm erklärt, und daran mußte er jetzt denken, als sie neben ihm herfuhren und er zwischen den Straßenlaternen sein verzerrtes Gesicht im Spiegel ihrer glänzenden schwarzen Visiere auftauchen sah. Dann fiel ihm ein, daß Luchse nur in Panama City operierten, und er fragte sich, ob sie vielleicht bloß eine Spritztour machten oder ob sie ihm tatsächlich bis hierher gefolgt waren, um ihn in der Einsamkeit zu erschlagen. Aber er bekam nie eine Antwort auf diese Frage, denn als er noch einmal hinsah, waren sie schon wieder in der Finsternis verschwunden, aus der sie gekommen waren, und er war wieder allein auf der holprigen, gewundenen Piste, allein mit den toten Hunden im Scheinwerferlicht und dem Busch, der auf beiden Seiten so dicht war, daß man keine einzelnen Baumstämme sah, sondern nur schwarze Wände und die Augen von Tieren, deren wütendes Geschrei durchs offene Schiebedach in seine Ohren drang. Einmal sah er eine Eule, die man an einem Strommast gekreuzigt hatte: Die Innenseiten der Flügel und die Brust waren weiß wie die

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