Der Schneider
Papieren gefischt, die sich während Luxmores überstürzter Reise nach Panama in dessen Postkorb angesammelt hatten. Als ambitionierter Nachrichtendienstler ließ Johnson es sich natürlich nicht nehmen, Luxmores Post bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu durchstöbern.
Und das Wunderbare dabei war, daß Johnson niemanden wegen dieser Meldung konsultieren konnte als sich selbst. Die gesamte Obere Etage war irgendwo zum Essen, Luxmore befand sich auf dem Heimflug, und damit war außer Johnson kein Mensch im Haus, der Zugang zu BUCHAN hatte. Von Ehrgeiz und Erregung getrieben, rief er sogleich in Cavendishs Büro an, wo man ihm sagte, Cavendish sei mit Hatry zum Lunch ausgegangen. Durch einen Anruf in Hatrys Büro erfuhr er, daß Hatry ins Connaught gegangen war. Alles auf eine Karte setzend, forderte er gleich den einzigen verfügbaren Wagen mit Fahrer für sich an. Eine Anmaßung, für die Johnson später, wie auch für andere, zur Rechenschaft gezogen wurde.
»Ich bin Scottie Luxmores Assistent, Sir«, teilte er Cavendish atemlos mit, das sympathischere der beiden Gesichter ansprechend, die von dem Tisch in der Nische zu ihm aufsahen. »Ich habe eine sehr wichtige Nachricht aus Panama für Sie, Sir, ich fürchte, das duldet keinen Aufschub. Und eine telefonische Übermittlung habe ich nicht für angebracht gehalten.«
»Nehmen Sie Platz«, sagte Hatry. Und zum Kellner: »Einen Stuhl.«
Johnson nahm Platz und wollte Cavendish gerade den vollständig dechiffrierten Text von Maltbys Meldung aushändigen, als Hatry ihm das Papier aus der Hand riß und so heftig auseinanderfaltete, daß etliche andere Gäste sich neugierig nach ihm umdrehten. Hatry überflog die Meldung und reichte sie dann an Cavendish weiter. Cavendish las sie, und wahrscheinlich auch mindestens ein Kellner, denn inzwischen herrschte ein wahres Gedränge am Tisch, wo man ein drittes Gedeck für Johnson auftrug: Offenbar wollte man ihn als gewöhnlichen Gast und nicht als verschwitzten jungen Jogger in Sportsakko und grauer Flanellhose erscheinen lassen – der Geschäftsführer sah einen solchen Aufzug ganz und gar nicht gern, aber schließlich war Freitag, und Johnson hatte sich bereits für ein Wochenende in Gloucestershire bei seiner Mutter zurechtgemacht.
»Genau darauf haben wir gewartet, stimmt’s?« fragte Hatry Cavendish mit einer halb zerkauten Niere im Mund. »Wir können loslegen.«
»Genau«, bestätigte Cavendish mit stillem Behagen. »Jetzt haben wir unsern Vorwand.«
»Sollten wir nicht Van unterrichten?« fragte Hatry und wischte seinen Teller mit einem Stück Brot ab.
»Nun, ich denke, Ben – in diesem Fall ist es das Beste – wenn Bruder Van die Sache aus der Zeitung erfährt«, sagte Cavendish in abgehackten kurzen Sätzen. » Bitte entschuldigen Sie, darf ich mal stören«, bat er Johnson, indem er bereits über ihn hinwegstieg. »Aber ich muß mal eben telefonieren.«
Er entschuldigte sich auch beim Kellner und vergaß in der Eile, seine Damastserviette abzunehmen. Wenig später wurde Johnson gefeuert; warum, hat man nie genau erfahren. Angeblich, weil er mit einem dechiffrierten Text in London herumgefahren war, einem Text, der sämtliche Symbole und operativen Kodenamen enthielt. Inoffiziell galt er als ein wenig zu nervenschwach für nachrichtendienstliche Arbeit. Doch als gravierendster Verstoß galt wahrscheinlich, daß er im Sportsakko ins Connaught gestürmt war.
22
Der Weg zum Feuerwerkfest in Guararé in der panamaischen Provinz Los Santos, die auf einer kargen Halbinsel an der Südwestseite des Golfs von Panama liegt, führte für Harry Pendel über Onkel Bennys Haus in der Leman Street, wo es nach Kohleöfen roch, über das Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern, mehrere Synagogen im East End und eine Reihe völlig überfüllter britischer Strafanstalten unter der edelmütigen Schirmherrschaft Ihrer Majestät der Königin. Alle diese und andere Einrichtungen lagen im schwarzen Dschungel links und rechts von ihm, an der gewundenen, mit Schlaglöchern bedeckten Straße vor ihm, auf den Hügeln, deren Konturen sich vor dem sternenübersäten Himmel abzeichneten, und auf dem stahlgrauen spiegelglatten Pazifik, über dem ein blanker Neumond schwebte.
Die schwierige Fahrt mit dem Geländewagen wurde für ihn noch anstrengender, weil hinter ihm ständig seine Kinder quengelten, er solle ihnen etwas vorsingen oder komische Stimmen imitieren, und neben ihm seine unglückliche Frau ihn mit wohlgemeinten
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