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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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als sich zu den Zuschauern zu stellen, ohne jedoch aktiv in die Debatte einzugreifen. Der alte Mann hatte ziemlich schlimme Verbrennungen. Das wurde jedesmal deutlich sichtbar, wenn er die Hände vom Gesicht nahm, um etwas zu sagen oder Widerspruch anzumelden. An seiner linken Wange fehlte ein großes Stück Haut, und die Wunde erstreckte sich bis in den offenen Ausschnitt seines kragenlosen Hemds. Und die Polizisten wollten ihn wegen dieser Verletzung ins örtliche Krankenhaus bringen, wo er eine Spritze bekäme, weil das, darin waren sich alle einig, genau die richtige Arznei bei einer Verbrennung war.
    Aber der alte Mann wollte weder Spritze noch Arznei. Er wollte lieber die Schmerzen als die Spritze ertragen, er wollte lieber eine Blutvergiftung und jede andere schlimme Nebenwirkung riskieren, als mit der Polizei zum Krankenhaus zu fahren. Und er begründete das damit, daß er ein alter Säufer sei und dies wahrscheinlich das letzte Fest seines Lebens, und überhaupt wisse doch jeder, daß man nach einer Spritze für den Rest des Fests nichts mehr trinken könne. Nach reiflicher Überlegung – hier rief er seinen Schöpfer und seine Frau als Zeugen an – erkläre er deshalb hiermit, die Polizei könne sich ihre Spritze in den Arsch schieben, denn er ziehe es vor, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, womit dann auch gleich für die Schmerzen gesorgt sei. Er wäre daher allen Umstehenden, auch den Polizisten, sehr verbunden, wenn sie sich nun bitte endlich allesamt zum Teufel scheren würden; und wenn sie ihm wirklich etwas Gutes tun wollten, könnten sie ihm und seiner Frau was zu trinken bringen, am besten eine Flasche seco .
    Pendel hörte sich das alles genau an, denn er vermutete dahinter eine geheime Botschaft, auch wenn ihm deren Bedeutung verborgen blieb. Polizisten und Gaffer gingen nach und nach auseinander. Die alte Frau hockte sich neben ihren Mann und legte ihm einen Arm um den Hals, und als Pendel die Treppe des einzigen Hauses in der Straße hochstieg, in dem kein Licht brannte, sagte er sich: Ich bin bereits tot, ich bin genauso tot wie du, Mickie, also glaub nur nicht, daß dein Tod mir Angst machen könnte.
     
    Er klopfte an, es kam aber niemand. Sein Klopfen bewirkte lediglich, daß man sich auf der Straße nach ihm umdrehte, denn wer klopft schon während der Festzeit bei jemandem an die Haustür? Also hörte er damit auf und blieb mit dem Gesicht im Schatten des Vorbaus. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen. Er drückte die Klinke und trat ein, und als erstes wähnte er sich wieder im Waisenhaus: Es war kurz vor Weihnachten, er war einer der Weisen aus dem Morgenland im alljährlichen Krippenspiel, er hielt eine Laterne und einen Stock und trug einen alten braunen Filzhut, den jemand den Armen geschenkt hatte – nur daß die Schauspieler in dem Haus, das er jetzt betrat, an den falschen Stellen standen und irgendwer das Christkind geklaut hatte.
    Hier war der Stall ein kahles gefliestes Zimmer. Vom Feuerwerk draußen auf dem Platz fiel flackerndes Licht herein. Eine Frau mit Kopftuch wachte über der Krippe, sie hatte die Hände unterm Kinn gefaltet und betete; es war Ana, die offenbar das Bedürfnis hatte, in Gegenwart des Todes ihren Kopf zu verhüllen. Aber die Krippe war keine Krippe. Sondern Mickie: verkehrt herum, wie sie gesagt hatte. Mickie, mit dem Gesicht auf dem Küchenboden und dem Hintern nach oben, und dort, wo ein Ohr und eine Wange hätten sein sollen, sah sein Kopf wie eine Landkarte von Panama aus. Die Waffe, mit der er es getan hatte, lag neben ihm, sie zeigte anklagend auf den Eindringling und verkündete aller Welt recht überflüssig, was alle Welt längst wußte: daß Harry Pendel, Schneider, Traumlieferant, Erfinder von Menschen und Fluchtorten, sein eigenes Geschöpf ermordet hatte.
     
    Als Pendels Augen sich an das unruhige Licht des Feuerwerks, der Leuchtraketen und Straßenlaternen gewöhnt hatten, erkannte er nach und nach das ganze Ausmaß der Schweinerei, die Mickie hinterlassen hatte, als er sich den halben Schädel weggeschossen hatte: Spuren fanden sich auf dem Fliesenboden und an den Wänden und an überraschenden Stellen wie einer Kommode, die mit einer primitiven Zeichnung feiernder Piraten und ihrer Bräute geschmückt war. Und diese Spuren lösten die ersten Worte aus, die er zu Ana sagte, Worte, die eher praktischer als tröstender Natur waren.
    »Wir sollten etwas vor die Fenster hängen«, sagte er.
    Aber sie antwortete nicht, regte

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