Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
Vom Netzwerk:
der Heiligen Jungfrau einen ausgezeichneten Blick auf das Bacchanal draußen zu gewähren, ob sie das wollte oder nicht. Die Engel jedenfalls glaubten offensichtlich, daß sie den Kontakt zum gewöhnlichen Leben mit all seinen Fehlern und Schwächen nicht verlieren sollte.
    Er ging langsam wie jeder Verurteilte, er hielt sich in der Mitte der Straße und lächelte. Er lächelte, weil alle anderen lächelten, und weil ein unhöflicher Gringo, der inmitten einer feiernden Menge geradezu lachhaft schöner spanischindianischer Mestizos nicht mitlächelt, eine gefährdete Spezies ist. Und Marta hatte recht, es waren, wie auch Pendel längst bemerkt hatte, tatsächlich die schönsten und tugendhaftesten und reinsten Menschen der Welt. Unter ihnen zu sterben, wäre eine Auszeichnung. Er würde darum bitten, auf der anderen Seite der Brücke begraben zu werden.
    Zweimal fragte er nach dem Weg. Jedesmal wies man ihn in eine andere Richtung. Das erstemal schickte ihn eine Gruppe von Engeln treuherzig quer über den Platz, wo er ein bewegliches Ziel für die Salven von Raketen mit Mehrfachsprengköpfen abgab, die von allen vier Seiten in Kopfhöhe aus Fenstern und Hauseingängen abgefeuert wurden. Und wenn er auch lachend hin und her sprang und deutlich zeigte, daß er den Scherz nicht übel nahm, war es im Grunde ein Wunder, daß er das andere Ufer erreichte, ohne irgendeine Verletzung oder Verbrennung an Augen, Ohren und Eiern davonzutragen, denn diese Raketen waren alles andere als ein Scherz, und es sagte auch niemand lachend, sie seien einer. Es waren rotglühende Hochgeschwindigkeitsgeschosse, die flüssiges Feuer spuckten. Sie wurden aus kürzester Entfernung und unter dem Kommando einer x-beinigen, sommersprossigen, rothaarigen Amazone in ausgefransten Shorts abgefeuert, die als selbsternannte Befehlshaberin einer schwerbewaffneten Einheit einen Strang tödlicher Raketen hinter sich herschleifte, während sie mit lüsternem Blick und wild gestikulierend einherstolzierte. Sie rauchte – was für ein Kraut, konnte man sich denken –, und zwischen den einzelnen Zügen schrie sie ihren Soldaten über den Platz Befehle zu: »Schneidet ihm den Schwanz ab, zwingt den Gringo in die Knie …«, dann wieder ein Zug an der Zigarette und das nächste Kommando. Aber Pendel war ein gutmütiger Bursche, und diese Menschen waren Engel.
    Und als er das zweitemal nach dem Weg fragte, schickte man ihn zu einer Häuserreihe, die eine Seite des Platzes säumte und auf deren Veranden sich protzig gekleidete rabiblancos aufhielten, die mit ihren glänzenden BMWs alles zugeparkt hatten; und als Pendel an diesen lärmenden Veranden entlangschritt, dachte er immer wieder: Ich kenne dich, du bist der Sohn, du bist die Tochter von dem und dem, meine Güte, wie die Zeit vergeht. Aber genauer betrachtet ging ihn die Anwesenheit dieser Typen hier gar nichts an, und es war ihm egal, ob auch sie ihn erkannten, denn das Haus, in dem Mickie sich erschossen hatte, war nur noch wenige Türen von ihm entfernt, und das war ein sehr guter Grund, seine Gedanken ausschließlich auf einen sexbesessenen Mitgefangenen mit dem Spitznamen Spider zu konzentrieren, der sich in seiner Zelle erhängt hatte, während Pendel kaum einen Meter neben ihm schlief. Spiders Leiche war bisher die einzige gewesen, mit der Pendel sich aus nächster Nähe hatte befassen müssen. Und so war es gewissermaßen Spiders Schuld, daß Pendel sich, aufgewühlt wie er war, plötzlich mitten in einer ungeordneten Absperrkette der Polizei wiederfand: ein Polizeiauto, ein Kreis von Zuschauern und etwa zwanzig Polizisten, die unmöglich alle in das Auto gepaßt haben konnten, aber, angezogen wie Möwen von einem Fischerboot, aufgetaucht waren, wie Polizisten in Panama es zu tun pflegen, sobald sie irgendwo Profit und Abenteuer wittern.
    Ihr Interesse galt einem alten Bauern, der wie betäubt auf dem Bordstein saß; er hielt seinen Strohhut zwischen den Knien und die Hände vorm Gesicht und stieß zwischen gorillahaften Wutausbrüchen schauderhafte Klagerufe aus. Um ihn herum standen ein Dutzend Ratgeber und Gaffer und Sprücheklopfer, darunter etliche Betrunkene, die einander gegenseitig stützen mußten, und eine alte Frau, vermutlich seine Ehefrau, die dem alten Mann lautstark zustimmte, wann immer er eine Pause machte. Und da die Polizisten gar nicht daran dachten, einen Weg durch diese Gruppe und schon gar nicht durch ihre eigenen Reihen freizumachen, blieb Pendel nichts anderes übrig,

Weitere Kostenlose Bücher