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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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eines Märtyrers, und ihre Augen standen offen. Aber ob das Tier in einen seiner ständigen Alpträume gehörte oder letztlich ihre Verkörperung war, blieb ihm ein Rätsel.
    Danach war Pendel anscheinend für eine Zeitlang eingenickt, und wahrscheinlich hatte er auch noch eine falsche Abzweigung erwischt, denn als er wieder aufsah, befand er sich auf dem Picknick mit Louisa und den Kindern in Parita vor zwei Jahren, sie saßen auf einem Rasenviereck, umgeben von einstöckigen Häusern mit erhöhten Veranden und großen Steinen davor, die dazu dienten, aufs Pferd zu steigen, ohne daß man sich die hübschen sauberen Schuhe schmutzig machte. In Parita hatte eine alte Hexe mit schwarzer Kapuze Hannah erzählt, die Ortsbewohner hielten unter ihren Dächern junge Boas, die ihnen die Mäuse fangen sollten, und Hannah hatte sich daraufhin geweigert, irgendein Haus dieses Orts zu betreten, weder um ein Eis zu kaufen noch um Pipi zu machen. Ihre Panik ging so weit, daß sie nicht einmal wie geplant die Messe besuchen konnten, sondern draußen vor der Kirche bleiben mußten; dort hatten sie einem alten Mann oben in dem weißen Glockenturm zugewinkt, und der hatte ihnen, während er mit einer Hand die große Glocke läutete, mit der anderen zurückgewinkt, und hinterher waren sie sich alle einig, daß das noch besser als die Messe gewesen war. Nach dem Läuten hatte er ihnen in Zeitlupe eine erstaunliche Vorstellung eines Orang-Utans gegeben: Erst hatte er sich von einem eisernen Querträger herabgeschwungen, dann hatte er sich Kopf, Achseln und Schritt nach Läusen abgesucht und seine Beute kurzerhand aufgegessen.
    Als er an Chitré vorbeifuhr, erinnerte sich Pendel an die Garnelenfarm, wo Garnelen ihre Eier in die Stämme von Mangroven legten und Hannah gefragt hatte, ob sie dazu vorher schwanger werden müßten. Und nach den Garnelen dachte er an eine freundliche schwedische Blumenzüchterin, die ihnen von einer Orchidee erzählt hatte, die Kleine Prostituierte der Nacht genannt wurde, weil sie tagsüber nach gar nichts roch, nachts hingegen so, daß kein anständiger Mensch sie ins Haus nehmen würde.
    »Harry, es ist nicht nötig, unseren Kindern das zu erklären. Sie sind auch so schon genug Freizügigkeiten ausgesetzt.«
    Aber Louisas Kritik konnte es nicht verhindern, daß Mark eine volle Woche lang seine Schwester putita de noche nannte, bis Pendel es ihm schließlich ausdrücklich untersagte.
    Und nach Chitré kam das Kampfgebiet: erst der heranrückende rote Himmel, dann der Donner der Geschütze, dann das Lodern der Leuchtraketen, als er auf dem Weg nach Guararé durch eine Polizeisperre nach der andern gewinkt wurde.
     
    Pendel ging zu Fuß, Leute in Weiß gingen neben ihm her und führten ihn zum Galgen. Daß er sich auf einmal mit dem Tod versöhnt hatte, war eine angenehme Überraschung für ihn. Falls er sein Leben noch einmal leben sollte, beschloß er, würde er für die Hauptrolle einen anderen Darsteller verlangen. Er schritt zum Galgen, und die Engel an seiner Seite waren Martas Engel, wie er sogleich erkannte, das wahre Herz Panamas, die Leute von der anderen Seite der Brücke, Menschen, die weder bestachen noch sich bestechen ließen, die nur mit denen schliefen, die sie liebten, Menschen, die schwanger wurden und nicht abtrieben, und bestimmt würde auch Louisa sie bewundern, könnte sie nur über die Mauern springen, von denen sie umgeben war – aber wer kann das schon? Wir sind im Gefängnis geboren, jeder von uns, zu lebenslänglicher Haft verurteilt, sobald wir die Augen aufschlagen; eben das machte ihn beim Anblick seiner Kinder so traurig. Aber diese Kinder hier waren anders, sie waren Engel, und er freute sich sehr, ihnen in den letzten Stunden seines Lebens zu begegnen. Er hatte nie bezweifelt, daß es in Panama mehr Engel pro Quadratkilometer gab, mehr weiße Krinolinen und Blumen im Haar und vollkommene Schultern, mehr Küchendüfte, Musik, Tanz und Lachen, mehr Betrunkene, heimtückische Polizisten und tödliche Feuerwerke als in jedem anderen vergleichbaren, zwanzigmal so großen Paradies, und hier hatten sich nun alle versammelt, um ihn zu begleiten. Und wie ihn die Musikkapellen und die wetteifernden Volkstanzgruppen erfreuten – schlanke, schwärmerisch dreinblickende Schwarze in Cricketblazern und weißen Schuhen, die mit flachen Händen liebevoll die kreisenden Hüften ihrer Partnerinnen in der Luft nachformten. Und wie er sich freute, daß das Kirchenportal geöffnet worden war, um

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