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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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waren die Worte ausgegangen: Pendel, dem Worte Sicherheit und Trost bedeuteten. Statt dessen lächelte er nur, als Marta ihm das Tuch hinhielt und er es wieder aufrollte; er lächelte, bis es ihm weh tat, während Marta finster dazu dreinsah, teils wegen Osnard, teils weil ihr Gesicht nun einmal zu diesem Ausdruck erstarrt war, nachdem der entsetzte Arzt sein Bestes getan hatte.

4
    »Nun, Sir, wollen wir Ihre Maße nehmen, wenn ich bitten darf.«
    Pendel hatte Osnard das Jackett abgenommen, wobei ihm ein dicker brauner Umschlag aufgefallen war, der zwischen den beiden Hälften der Brieftasche steckte. Die Wärme stieg von Osnards schwerem Körper auf wie von einem nassen Spaniel. Seine von züchtigen Löckchen umrahmten Brustwarzen traten deutlich durch das schweißgetränkte Hemd hervor. Pendel trat hinter ihn und maß den Rücken vom Kragen zur Taille. Beide Männer schwiegen. Panamaern machte es nach Pendels Erfahrungen Spaß, sich Maß nehmen zu lassen. Engländern nicht. Weil man dabei angefaßt wurde. Wieder am Kragen ansetzend, maß er nun, sorgfältig jede Berührung vermeidend, die Gesamtlänge des Rückens. Noch immer schwiegen sie. Von der Mitte des Rückens ausgehend, maß er bis zum Ellbogen, dann bis zu den Manschetten. Er trat neben Osnard, bedeutete ihm mit einer sachten Berührung, die Ellbogen anzuheben, und schlang ihm das Maßband in Höhe der Brustwarzen um den Oberkörper. Bei seinen unverheirateten Kunden verfuhr er gelegentlich weniger feinfühlig, aber bei Osnard hatte er keine Befürchtungen. Im Laden unten ging die Klingel, dann hörten sie die Tür vorwurfsvoll zuschlagen.
    »War das Marta?«
    »In der Tat, Sir. Offenbar auf dem Heimweg.«
    »Ist sie sauer auf Sie?«
    »Aber nein. Wie kommen Sie darauf?«
    »War nur so ’ne Ahnung.«
    »Na so was«, sagte Pendel erleichtert.
    »Hatte auch das Gefühl, daß sie mich nicht mochte.«
    »Du meine Güte, Sir. Wieso denn nur?«
    »Geld schulde ich ihr keins. Hab sie nie gevögelt. Kann mir das auch nicht erklären.«
    Der Anproberaum, holzverkleidet und etwa zwölf mal neun Meter groß, befand sich am Ende der Sportabteilung im Obergeschoß. Ein Drehspiegel, drei Wandspiegel und ein kleiner vergoldeter Stuhl bildeten die gesamte Einrichtung. Als Tür diente ein schwerer grüner Vorhang. Die Sportabteilung selbst war ein niedriger langer Schlauch, ein Dachboden, der an vergangene Kinderspiele erinnerte. Nirgendwo sonst im Laden hatte Pendel sich solche Mühe mit der Ausstattung gegeben. An der Wand entlang liefen Messingstangen, an denen ein kleines Heer halbfertiger Anzüge hing, die auf den letzten Arbeitsgang warteten. Golfschuhe, Hüte und grüne Regenmäntel schimmerten in antiken Mahagoniregalen. Reitstiefel, Gerten, Sporen, ein schönes Paar englische Schrotflinten, Munitionsgürtel und Golfschläger waren in kunstvollem Durcheinander arrangiert. Und im Vordergrund, auf dem Ehrenplatz, erhob sich ein stattliches, mit Leder bezogenes Pferd – ähnlich einem Turnpferd, aber mit Schwanz und Kopf –, auf dem der sportliche Gentleman den Sitz seiner Reithosen prüfen konnte, ohne einen Abwurf befürchten zu müssen.
    Pendel zermarterte sich den Kopf nach einem Thema. Sonst plauderte er im Anproberaum unablässig, um das Intime der Situation abzuschwächen, aber aus irgendeinem Grund war ihm jetzt sein üblicher Gesprächsstoff abhanden gekommen. Er rettete sich in Erinnerungen an seine schwierige Frühzeit.
    »Was haben wir damals in Whitechapel immer früh aufstehen müssen! Im Dunkeln und bei Frost, das Pflaster naß vom Tau, ich spüre die Kälte jetzt noch. Heute ist das natürlich anders. Es gibt kaum noch junge Menschen, die unser Handwerk erlernen wollen, habe ich gehört. Jedenfalls nicht im East End. Nicht das echte Schneiderhandwerk. Ist ihnen wohl zu mühsam. Und recht haben sie.«
    Er nahm die Maße für das Cape, wieder am Rücken, aber diesmal mußte Osnard die Arme herabhängen lassen, und Pendel schlang das Band außen um ihn herum. Ein solches Maß hätte er normalerweise nicht genommen, aber Osnard war auch kein normaler Kunde.
    »Vom East End ins West End«, bemerkte Osnard. »Ganz schöner Aufstieg.«
    »Allerdings, Sir, und ich habe den Tag noch nie bereuen müssen.«
    Sie standen einander dicht gegenüber. Doch während Osnards strenge braune Augen Pendel aus allen Winkeln zu verfolgen schienen, hielt Pendel den Blick starr auf den von Schweiß verzogenen Bund der Gabardinehose gerichtet. Er maß Osnards Taillenumfang,

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