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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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indem er das Band festzog.
    »Und? Ist es schlimm?« fragte Osnard.
    »Sagen wir, bescheidene 36 plus, Sir.«
    »Plus was?«
    »Plus Mittagessen, um es einmal so zu formulieren, Sir«, sagte Pendel und erzielte damit endlich ein lang entbehrtes Lachen.
    »Schon mal Sehnsucht nach der alten Heimat?« fragte Osnard, während Pendel diskret eine 38 in sein Notizbuch schrieb.
    »Eigentlich nicht, Sir. Nein, ich glaube nicht. Nicht daß ich wüßte. Nein«, antwortete er und ließ das Notizbuch in die Gesäßtasche gleiten.
    »Möchte wetten, manchmal sehnen Sie sich doch noch in die Row zurück.«
    »Ach ja, die Row«, stimmte Pendel von Herzen zu und gab sich plötzlich der wehmütigen Vision hin, er lebe in einem behaglichen früheren Jahrhundert und nehme Maß für Fräcke und Kniebundhosen. »Ja, mit der Row ist es natürlich etwas anderes. Hätten wir mehr in der Art der alten Savile Row und weniger von dem, was wir heute haben, würde es England jetzt weitaus besser gehen. Das Land wäre wesentlich glücklicher, wenn ich so sagen darf.«
    Aber falls Pendel wähnte, Osnard mit solchen Platitüden von seinen bohrenden Fragen ablenken zu können, war die ganze Mühe umsonst.
    »Erzählen Sie.«
    »Wovon, Sir?«
    »Der alte Braithwaite hat Sie als Lehrling genommen, richtig?«
    »Richtig.«
    »Tag für Tag hat der strebsame junge Pendel bei ihm vor der Tür gesessen. Jeden Morgen, wenn der Alte zur Arbeit kam, waren Sie schon da. ›Guten Morgen, Mr. Braithwaite, Sir, wie geht es Ihnen? Mein Name ist Harry Pendel, ich bin Ihr neuer Lehrling.‹ Wunderbar. Das nenne ich Chuzpe, das gefällt mir.«
    »Das freut mich sehr zu hören«, sagte Pendel unsicher, während er über die Erfahrung hinwegzukommen versuchte, seine eigene Anekdote in einer ihrer zahlreichen Versionen von jemand anderem erzählt zu bekommen.
    »Schließlich haben Sie ihn weichgeklopft und werden sein Lieblingslehrling, ganz wie im Märchen«, fuhr Osnard fort. Welches Märchen er meinte, sagte er nicht, und Pendel fragte auch nicht danach. »Und eines Tages – wie viele Jahre ist das jetzt her? – dreht sich der alte Braithwaite zu Ihnen um und sagt: ›Na schön, Pendel. Als Lehrling kann ich Sie nicht mehr brauchen. Ab heute sind Sie der Kronprinz.‹ So was in der Richtung jedenfalls. Erzählen Sie doch mal. Ein bißchen ausführlicher.«
    Heftige Konzentration furchte Pendels normalerweise glatte Stirn. Er stellte sich vor Osnards linke Seite, schlang ihm diskret das Band um den Leib, dort, wo er am ausladendsten war, und kritzelte wieder etwas in sein Notizbuch. Er bückte sich, maß die äußere Beinlänge, richtete sich auf und sank wie ein kraftloser Schwimmer wieder ein, bis sein Kopf sich in Höhe von Osnards rechtem Knie befand.
    »Tragen wir links, Sir?« fragte er leise; er spürte Osnards brennenden Blick im Nacken. »Die meisten meiner Gentlemen scheinen das heutzutage zu bevorzugen. Aber das ist wohl nicht politisch zu verstehen.«
    Das war sein Standardscherz, mit dem er auch die gesetztesten seiner Kunden zum Lachen bringen konnte. Osnard freilich nicht.
    »Weiß nie, wo die blöden Dinger hängen. Mal hier mal da«, antwortete er gleichgültig. »War es morgens? Oder abends? Wann hat er Ihnen seinen königlichen Besuch abgestattet?«
    »Abends«, murmelte Pendel nach einer Ewigkeit. »An einem Freitag wie heute.« Es klang wie das Eingeständnis einer Niederlage.
    Vermutlich links, nahm er an, wollte aber kein Risiko eingehen und schob Osnard das Messingende des Maßbands rechts in den Schritt, peinlich darauf bedacht, nicht mit dem Inhalt in Berührung zu kommen. Dann zog er das Band mit der Linken bis zur Oberkante von Osnards Schuhsohle herunter; es war ein schwerer, häufig geflickter Freizeitschuh. Er zog einen Zoll vom Meßergebnis ab und notierte es. Als er sich mutig zu voller Größe streckte, sah er die dunklen runden Augen fest auf sich gerichtet wie feindliche Geschütze, oder so kam es ihm jedenfalls vor.
    »Winter oder Sommer?«
    »Sommer.« Pendels Stimme erstarb. Er holte tapfer Luft und setzte noch einmal an. »Nicht viele von uns Jungen waren erpicht darauf, freitagabends im Sommer zu arbeiten. Ich war offenbar eine Ausnahme, und unter anderem deshalb ist Mr. Braithwaite wohl auf mich aufmerksam geworden.«
    »In welchem Jahr war das?«
    »Welches Jahr, ach herrje.« Er nahm sich zusammen, schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. »Meine Güte. Das ist eine Ewigkeit her. Aber man kann den Strom der

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