Der Schneider
Gezeiten nicht umkehren. Der Dänenkönig Knut hat es versucht – und was ist aus ihm geworden?« fügte er hinzu, ohne selbst recht zu wissen, was aus Knut geworden war.
Gleichviel, allmählich fand er seine Sicherheit wieder, das, was Onkel Benny sein rednerisches Talent genannt hatte.
»Er stand auf einmal in der Tür«, fuhr er in beinahe schwärmerischem Tonfall fort. »Ich muß ganz von einer Hose in Anspruch genommen gewesen sein, die er mir anvertraut hatte – so ist das bei mir, wenn ich arbeite; jedenfalls bin ich richtig zusammengezuckt. Ich sah auf, und da stand er und starrte mich schweigend an. Er war ja ziemlich groß. Das vergißt man leicht. Der mächtige kahle Schädel, die buschigen Augenbrauen – eine imposante Erscheinung. Kraftvoll. Man kam nicht an ihm vorbei …«
»Sie haben seinen Schnauzbart vergessen«, wandte Osnard ein.
»Schnauzbart?«
»Und was für einer! Immer mit Suppe vollgekleckert. Muß ihn abrasiert haben, als das Bild unten gemacht wurde. Hat mich zu Tode damit erschreckt. War damals erst fünf.«
»Ich habe ihn nie mit einem Schnauzbart gesehen, Mr. Osnard.«
»Aber sicher doch. Ich seh den Schnauzer noch vor mir, als wär’s gestern gewesen.«
Ob aus Eigensinn oder Instinkt, Pendel wollte nicht nachgeben.
»Hier dürfte Ihr Gedächtnis Ihnen einen Streich spielen, Mr. Osnard. Offenbar denken Sie an einen anderen Mann, mit dessen Schnauzbart Sie nun Arthur Braithwaite schmücken.«
»Bravo«, murmelte Osnard.
Doch Pendel weigerte sich zu glauben, daß er das gehört hatte, daß Osnard ihm einen leisen Wink gegeben hatte. Er rackerte weiter:
»›Pendel‹, sagt er zu mir. ›Ich möchte, daß Sie mein Nachfolger werden. Sobald Sie anständig Englisch können, werde ich Sie Harry nennen, in den vorderen Teil des Ladens versetzen und zu meinem Erben und Partner bestimmen‹ …«
»Sagten Sie nicht, dazu hat er neun Jahre gebraucht?«
»Wozu?«
»Sie Harry zu nennen.«
»Schließlich habe ich als Lehrling bei ihm angefangen.«
»Mein F ehler. Erzählen Sie weiter.«
»… ›und mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, also machen Sie jetzt mit der Hose weiter und schreiben sich für einen Redekurs an der Abendschule ein.‹«
Schluß. Er war ausgetrocknet. Der Hals tat ihm weh, seine Augen brannten, ihm dröhnten die Ohren. Doch irgendwo in seinem Innern war auch ein Gefühl von Befriedigung. Ich habe es geschafft. Ich habe mir das Bein gebrochen, ich habe 41 Fieber, aber ich habe durchgehalten.
»Unglaublich«, flüsterte Osnard.
»Ich danke Ihnen, Sir.«
»Die kitschigste Geschichte, die ich je im Leben gehört habe, und Sie tischen mir das auf wie ein Weltmeister.«
Pendel hörte das wie aus weiter Ferne, vermischt mit vielen anderen Stimmen. Die barmherzigen Schwestern in seinem Nordlondoner Waisenhaus, wie sie ihm sagten, Jesus werde böse auf ihn sein. Das Lachen seiner Kinder in dem Geländewagen. Ramón, wie er ihm erzählte, eine Londoner Handelsbank habe sich nach seiner geschäftlichen Situation erkundigt und gewisse Zahlungen für die Auskünfte angeboten. Louisa, wie sie ihm sagte, ein einziger guter Mann, mehr sei gar nicht nötig. Und dann hörte er den Feierabendverkehr stadtauswärts rauschen und träumte, auch er stecke darin fest und sei endlich frei.
»Wie Sie sehen, mein Lieber, weiß ich, wer Sie sind.« Aber Pendel sah gar nichts, nicht einmal den düsteren Blick, mit dem Osnard ihn durchbohrte. Er hatte eine Wand in seinem Kopf errichtet, und Osnard war auf der anderen Seite. »Genauer gesagt, ich weiß, wer Sie nicht sind. Kein Grund zur Panik oder Beunruhigung. Ich finde es wunderbar. Alles, von A bis Z. Möchte um nichts in der Welt darauf verzichten.«
»Ich bin nicht irgendwer«, hörte Pendel sich von seiner Seite der Wand flüstern, und dann das Geräusch, mit dem der Vorhang des Anproberaums beiseitegeschoben wurde.
Und er registrierte mit bewußt vernebeltem Blick, wie Osnard durch die Öffnung spähte und vorsichtshalber nachsah, ob auch niemand in der Sportabteilung war. Dann vernahm er wieder Osnards Stimme, aber so nah an seinem Ohr, daß das Flüstern nur so dröhnte.
»Sie sind Pendel, Nummer 906017, als Jugendlicher rechtskräftig zu sechs Jahren wegen Brandstiftung verurteilt, zweieinhalb davon abgesessen. Dieser Pendel hat sich das Schneidern im Knast selbst beigebracht. Hat drei Tage nach der Entlassung das Land verlassen, mit Geld versorgt von Benjamin, seinem inzwischen verstorbenen Onkel
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