Der Schneider
Redetalent. Den Ereignissen vorauseilen und dann warten, daß sie einen einholten. Die Menschen größer oder kleiner machen, je nachdem, ob sie sein Dasein bereicherten oder bedrohten. Delgado herabsetzen. Miguel emporheben. Und Harry Pendel wie ein Korken auf dem Wasser. Seine Überlebenstechnik, die er im Gefängnis entwickelt und in der Ehe vervollkommnet hatte, und ihr Zweck war, einer feindlichen Welt alles zu geben, was sie beschwichtigen konnte. Was sie erträglich machen, sie freundlich stimmen und ihr den Stachel nehmen konnte.
»Und was der alte Miguel jetzt natürlich macht«, fuhr Pendel fort, indem er Osnards Blick geschickt auswich und in den Saal hineinlächelte, »ich will mal so sagen: er hat seinen letzten Frühling. So etwas sehe ich in meinem Beruf immer wieder. Heute noch gehen die Leute ihrer geregelten Arbeit nach, sie sind gute Väter und Ehemänner und kaufen zwei Anzüge im Jahr. Morgen werden sie fünfzig, und plötzlich verlangen sie zweifarbige Lederhosen und knallbunte Jacketts, und die Frauen rufen an und fragen, ob ich ihren Mann gesehen habe.«
Aber trotz aller Bemühungen gelang es Pendel nicht, Osnard von sich abzulenken. Die lebhaften braunen Fuchsaugen starrten ihn unvermindert an, und Osnards Miene – falls sich in diesem Chaos jemand die Mühe gemacht hätte, sie zu beobachten – war die eines Mannes, der eine Goldader entdeckt hatte und nicht wußte, ob er Hilfe holen oder sie allein ausgraben sollte.
Eine Phalanx von Gästen brach herein. Pendel hatte sie alle gern:
Jules, du liebe Zeit, schön Sie zu sehen, Sir! Darf ich Ihnen Andy vorstellen, Freund von mir -französischer Wertpapierhändler , Andy , hat finanzielle Probleme .
Mordi, welche Freude, Sir! – junger Geschäftemacher aus Kiew , Andy , mit der neuen Welle von Aschkenasim gekommen , erinnert mich an meinen Onkel Benny – Mordi, darf ich Ihnen Andy vorstellen!
Der hübsche Kazuo und seine junge Braut vom japanischen Handelszentrum , das schönste Paar der Stadt – Salam, Sir! Madam, es ist mir eine Ehre! – drei Anzüge mit Extrahosen , und ich weiß immer noch nicht seinen Nachnamen , Andy .
Pedro, der junge Anwalt.
Fidel, der junge Banker.
José-María, Antonio, Salvador, Paul, blutjunge Aktienhändler, einfältige Bleichgesichter, auch als rabiblancos bekannt, glubschäugige Kaufleute, die sich mit dreiundzwanzig um ihre Männlichkeit sorgen, während sie ihre Potenz im Alkohol ertränken. Und zwischen all dem Händeschütteln und Schulterklopfen und Bis-Donnerstag-Harry Pendels leise Kommentare: wer ihre Väter waren, wer wieviel auf der Bank hatte und wie die Brüder und Schwestern dieser Leute strategisch auf die politischen Parteien verteilt waren.
»Gott«, staunte Osnard andächtig, als sie endlich wieder allein waren.
»Was soll denn Gott damit zu tun haben, Andy?« fragte Pendel ein wenig aggressiv, weil Louisa zu Hause keine Blasphemien duldete.
»Nicht Gott, Harry, mein Lieber. Sie.«
Die kostbaren Teakstühle und das verschnörkelte Tafelsilber im Restaurant des Club Unión sollen opulente Feststimmung verbreiten, aber die eigenartig niedrige Decke und die Notbeleuchtung lassen den Raum eher als Bunker für durchgebrannte Bankleute erscheinen. Pendel und Osnard hatten an einem Eckfenster Platz genommen und tranken chilenischen Wein und aßen Pazifikfisch. Die Speisenden taxierten einander aus ihren von Kerzen beleuchteten Nischen heraus mit unzufriedenen Blicken: Wie viele Millionen hast du schon zusammen? – wie hat sich der denn hier reingeschlichen? – was glaubt die eigentlich, wie weit sie es mit diesen Diamanten bringt? Inzwischen war der Himmel draußen pechschwarz geworden. Im beleuchteten Pool unter ihnen trug ein muskulöser Schwimmlehrer mit Badekappe ein vierjähriges Mädchen in goldfarbenem Bikini gravitätisch auf seinen Schultern durchs tiefe Wasser. Neben ihm watete ein fettleibiger Bodyguard mit nervös ausgestreckten Händen, um das Kind notfalls aufzufangen. Am Rand des Pools saß in einem Designer-Hosenanzug gelangweilt die Mutter und lackierte sich die Fingernägel.
»Ich will nicht prahlen, Andy, aber Louisa ist schlicht der Mittelpunkt «, sagte Pendel gerade. Warum redete er jetzt von ihr? Vielleicht hatte Osnard sie erwähnt. »Louisa ist eine absolute Top-Sekretärin mit unglaublichen Fähigkeiten, die meiner Meinung nach noch gar nicht richtig erkannt worden sind.« Nach ihrem unerfreulichen Telefongespräch tat es ihm gut, die Dinge wieder
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