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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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aus dem Hotel Paraiso zu schleichen? Aber das Schlimmste war gestern abend vorgefallen.
    Es war Donnerstag, und donnerstags brachte sie Arbeit mit nach Hause, damit ihr Schreibtisch im Büro am Freitag leer wurde und sie das Wochenende für die Familie frei hatte. Sie hatte die Aktentasche ihres Vaters auf dem Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer gelassen und sich vorgestellt, zwischen dem Zubettbringen der Kinder und der Zubereitung des Abendessens ein Stündchen arbeiten zu können. Aber dann verfiel sie plötzlich auf die Idee, die Steaks könnten Rinderwahnsinn haben, und sie fuhr den Hügel hinunter, um ein Huhn zu kaufen. Als sie zurückkam, stellte sie erfreut fest, daß Harry schon da war: Da stand sein Geländewagen, wie immer schräg eingeparkt, so daß für den Peugeot kein Platz mehr in der Garage war; also stellte sie ihn, und sogar gern, weit unten am Hügel ab und trug ihre Einkäufe zu Fuß den Bürgersteig hoch.
    Sie hatte Turnschuhe an. Die Haustür war unverschlossen. Harry, nachlässig wie immer. Ich werde ihn überraschen, ihn damit aufziehen, wie er mal wieder geparkt hat. Sie trat in den Flur, und durch die offene Tür ihres Zimmers sah sie ihn, er hatte ihr den Rücken zugewandt und die Aktentasche ihres Vaters offen vor sich auf ihrem Schreibtisch stehen. Er hatte alle Papiere herausgenommen und blätterte sie durch wie jemand, der weiß, was er sucht, es aber nicht finden kann. Zwei der Ordner waren geheim. Vertrauliche Personalakten. Das Exposé eines neuen Angestellten Delgados, es ging darin um Dienstleistungen für Schiffe, die auf die Durchfahrt warteten. Delgado machte sich Sorgen, weil der Verfasser kürzlich eine eigene Schiffsausrüsterfirma gegründet hatte und daher versuchen könnte, Aufträge für sich selbst an Land zu ziehen. Ob Louisa sich das mal ansehen und ihm ihre Meinung dazu sagen könnte?
    » Harry «, sagte sie.
    Oder vielleicht schrie sie. Aber wenn man Harry anschreit, zuckt er nicht zusammen. Er legt einfach hin, was er gerade tut, und wartet auf weitere Anweisungen. Genauso auch jetzt: Er erstarrte, und dann legte er sehr langsam, um keinen zu erschrecken, ihre Papiere auf ihren Schreibtisch. Dann trat er einen Schritt vom Schreibtisch zurück, nahm seine typische demutsvolle Haltung ein, richtete den Blick zwei Meter vor sich auf den Boden und lächelte ein Librium-Lächeln.
    »Ich suche die Rechnung, Schatz«, erklärte er mit Verliererstimme.
    »Was für eine Rechnung?«
    »Du weißt doch. Von der Einstein-Schule. Marks zusätzlicher Musikunterricht. Die sie uns angeblich geschickt haben und die wir nicht bezahlt haben.«
    »Harry, diese Rechnung habe ich vorige Woche bezahlt.«
    »Das habe ich denen auch gesagt. Louisa hat vorige Woche bezahlt. Sie vergißt so etwas nie, habe ich gesagt. Aber die wollten mir nicht zuhören.«
    »Harry, wir haben Kontoauszüge, wir haben Scheckdurchschriften, wir haben Überweisungsquittungen, wir haben eine Bank, die wir anrufen können, und wir haben Bargeld im Haus. Ich verstehe einfach nicht, wozu du meine Aktentasche in meinem Zimmer nach einer Rechnung durchsuchen mußt, die wir längst bezahlt haben.«
    »Na schön, wenn das so ist, kann ich ja beruhigt sein. Danke für die Information.«
    Den Beleidigten spielend, oder was auch immer er zu spielen glaubte, schritt er an ihr vorbei zu seinem eigenen Zimmer. Als er den Innenhof durchquerte, sah sie, wie er sich etwas in die Hosentasche schob, und zwar dieses scheußliche Feuerzeug, das er neuerdings immer mit sich herumschleppte – Geschenk von einem Kunden, hatte er gesagt und es ihr unter die Nase gehalten, es an- und ausgemacht, stolz wie ein Kind mit seinem neuen Spielzeug.
    Jetzt geriet sie in Panik. Die Sehkraft versagte, die Ohren gellten, die Knie gaben nach. Brandgeruch. Der Schweiß der Kinder, der an ihrem Körper hinabströmte, alles war wieder da. Sie sah El Chorillo in Flammen, und Harrys Gesicht, als er vom Balkon ins Haus zurückkam, das ölig rote Leuchten noch in den Augen. Sie sah ihn auf sich zukommen, zum Besenschrank, wo sie sich verkrochen hatte. Er nahm sie in die Arme. Und Mark mit, weil sie ihn nicht loslassen wollte. Dann stammelte er ihr etwas ins Ohr, das sie bis zu diesem Augenblick nie verstanden, nie richtig zu ergründen versucht hatte, weil es ihr als Teil des verstörten Dialogs traumatisierter Zeugen einer Katastrophe nicht wichtig erschienen war:
    »Wenn ich so eins gelegt hätte, hätte man mich für immer eingesperrt«, sagte

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