Der Schneider
sonst nach Hause kommen – und mit den Kindern vielleicht auf den Rummelplatz gehen, oder ins Kino. Und Louisa schluchzt, ja, das machen wir, Harry! Ja, wirklich! Aber es kommt nicht dazu. Denn am nächsten Tag fällt ihm der Empfang bei der brasilianischen Handelsdelegation ein – viele wichtige Leute, Lou, wir sollten das lieber auf morgen verschieben. Und wiederum am nächsten Tag heißt es, ich bin ein Lügner, Lou, du weißt doch, ich bin Mitglied in diesem Dinnerclub. Und heute gibt’s da eine Fete für irgendwelche Bonzen aus Mexiko, und habe ich nicht auf deinem Schreibtisch die neue Spillway gesehen?
Spillway war das Mitteilungsblatt für den Kanal.
Und am Montag kam der übliche wöchentliche Anruf von Naomi. Louisa hörte schon an Naomis Stimme, daß sie wichtige Neuigkeiten hatte. Sie fragte sich, was es wohl diesmal wäre. Vielleicht: Rat mal, wen Pepe Kleeber letzte Woche auf seine Geschäftsreise nach Houston mitgenommen hat. Oder: Hast du schon von Jacqui Lopez und ihrem Reitlehrer gehört? Oder: Was glaubst du, zu wem Dolores Rodríguez geht, wenn sie ihrem Mann erzählt, daß sie ihre Mutter nach deren Bypass-Operation versorgen muß? Aber diesmal gab Naomi nichts dergleichen zum besten, und das war Louisa auch recht, denn sonst hätte sie wahrscheinlich ohnehin gleich wieder aufgelegt. Naomi erkundigte sich bloß, wie geht’s denn der lieben Familie, wie kommt Mark mit der Prüfung zurecht, und stimmt es, daß Harry Hannah ihr erstes Pony kaufen will? Tatsächlich? Louisa, Harry ist wirklich der großzügigste Mensch der Welt, mein schlimmer Mann sollte sich mal ein Beispiel an ihm nehmen! Erst nachdem sie gemeinsam das kitschige Bild von der wahnsinnig glücklichen Familie Pendel fertiggemalt hatten, ging Louisa auf, daß Naomi sie bedauerte:
»Ich freue mich ja so für dich, Louisa. Es freut mich so, daß ihr alle gesund seid, daß die Kinder so gut vorankommen, daß ihr euch alle so liebhabt, daß Gott auf eurer Seite ist und daß Harry das alles auch zu schätzen weiß. Und es freut mich sehr , daß ich sofort gewußt habe, daß unmöglich wahr sein kann, was Letti Hortensas mir eben von Harry erzählt hat.«
Louisa hielt erstarrt den Hörer fest, sie konnte vor Entsetzen weder sprechen noch auflegen. Letti Hortensas, reiche Erbin und liederliches Weib, die Frau von Alfonso. Alfonso Hortensas, Lettis Mann, Bordellbesitzer, Kunde von P & B, Gauner.
»Natürlich«, sagte Louisa, ohne zu wissen, was sie da bestätigte; im Grunde forderte sie Naomi damit nur auf, weiterzureden.
»Louisa, wir beide wissen ganz genau, Harry ist nicht der Typ, der irgendwelche schäbigen Hotels besucht, wo man die Zimmer stundenweise bezahlt. ›Letti‹, habe ich gesagt, ›ich glaube, du solltest dir mal eine neue Brille zulegen. Louisa ist meine Freundin. Harry und mich verbindet seit langer Zeit eine platonische Freundschaft, und Louisa hat das von Anfang an gewußt und akzeptiert. Ihre Ehe ist auf Fels gebaut‹, habe ich zu ihr gesagt. ›Es ist mir egal, ob dein Mann das Hotel Paraiso besitzt oder ob du gerade dort im Foyer auf ihn gewartet hast, als Harry mit einem Haufen Huren aus dem Aufzug gekommen ist. Viele panamaische Frauen sehen wie Huren aus. Viele Huren gehen ihrem Geschäft im Paraiso nach. Harry hat viele Kunden aus allen möglichen Gesellschaftsschichten.‹ Glaub mir, Louisa, ich war ganz auf deiner Seite. Ich bin für dich eingetreten. Ich habe das Gerücht im Keim erstickt. ›Verdächtig?‹ habe ich zu ihr gesagt. ›Harry sieht nie verdächtig aus. Er weiß überhaupt nicht, wie man das anstellt. Hast du Harry schon mal so gesehen? Völlig ausgeschlossen.‹«
Es dauerte lange, bis das Gefühl in Louisas Körper zurückkehrte. Sie wollte vehement widersprechen. Aber ihr Ausbruch bei der Dinnerparty hatte ihr eine Heidenangst eingejagt.
»Miststück!« schrie sie durch ihre Tränen.
Allerdings erst, nachdem sie aufgelegt und sich aus Harrys neuer Hausbar einen großen Wodka eingeschenkt hatte.
Alles hatte mit dem neuen Clubraum angefangen, glaubte sie zu wissen. Seit Jahren war das Obergeschoß von P & B der Gegenstand von Harrys phantastischsten Träumen.
Der Anproberaum kommt unter den Balkon, Lou, sagte er gelegentlich. Die Sportabteilung kommt neben die Boutique. Oder: Vielleicht lasse ich den Anproberaum, wo er ist, und baue eine Außentreppe an. Oder: Lou, ich hab’s! Paß auf. Hinten ans Haus kommt ein freitragender Anbau, mit Fitnessraum und Sauna und einem
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