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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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er.
    Dann ließ er den Kopf sinken und blickte auf seine Füße wie jemand, der im Stehen betet, die gleiche Geste wie jetzt eben, nur schlimmer.
    »Ich konnte meine Beine nicht bewegen«, hatte er ihr erklärt. »Es ging einfach nicht. Das war wie ein Krampf. Ich hätte hinunterlaufen müssen, aber ich konnte nicht.«
    Dann die Sorgen, was Marta zugestoßen sein könnte.
    O Scheiße , Harry wollte das Haus anzünden ! schrie sie sich zu, als sie zitternd einen Schluck Wodka nahm und seine edle Musik über den Hof schallen hörte. Er hat ein Feuerzeug gekauft und will seine Familie verbrennen ! Als er ins Bett kam, vergewaltigte sie ihn, und er schien ihr dankbar. Am nächsten Morgen war das alles nicht geschehen. Morgens war gestern nie etwas geschehen. Für Harry nicht, für Louisa nicht. Nur so konnten sie zusammen durchhalten. Der Geländewagen sprang nicht an, und Harry mußte die Kinder mit dem Peugeot zur Schule bringen. Louisa fuhr mit dem Taxi zur Arbeit. Die für die Fliesen zuständige Putzfrau fand eine Schlange in der Speisekammer und bekam einen hysterischen Anfall. Hannah war ein Zahn ausgefallen. Es regnete. Harry war nicht für immer eingesperrt, und er brannte auch nicht mit seinem neuen Feuerzeug das Haus nieder. Aber er kam spät nach Hause, angeblich weil er wieder mal einen späten Kunden hatte.
     
    » Osnard? « wiederholte Louisa, die ihren Ohren nicht traute. » Andrew Osnard? Wer um Himmels willen ist dieser Mr. Osnard, und warum hast du ihn eingeladen, am Sonntag mit uns zum Picknick auf die Insel zu kommen?«
    »Er ist ein Brite, Lou, ich hab’s dir schon erzählt. Ist seit ein paar Monaten bei der Botschaft. Der mit den zehn Anzügen, weißt du nicht mehr? Er ist ganz allein hier. Hat wochenlang im Hotel gelebt, bis er seine Wohnung bekommen hat.«
    »In welchem Hotel?« fragte sie und dachte, bitte, lieber Gott, laß es das Paraiso sein.
    »Im El Panama. Er möchte mal eine richtige Familie kennenlernen. Das verstehst du doch sicher?« – die geschlagene, immer treue Hündin verstand nie etwas.
    Und als ihr dazu nichts einfiel:
    »Er ist ein toller Bursche, Lou. Wart’s nur ab. Lustig und munter. Die Kinder werden Feuer und Flamme sein, da mach ich jede Wette.« Der unglücklich gewählten Redensart folgte das falsche Lachen, das er sich neuerdings angewöhnt hatte. »Da schlagen meine alten englischen Wurzeln durch, nehme ich an. Patriotismus. Erwischt uns alle mal, sagt man. Dich auch.«
    »Harry, ich verstehe nicht, was deine oder meine Heimatliebe damit zu tun haben soll, daß du Mr. Osnard zu einem intimen Familienausflug an Hannahs Geburtstag einladen mußt, wenn du sowieso schon, wie wir festgestellt haben, kaum noch Zeit für deine Kinder hast.«
    Worauf sein Kopf nach vorne sank, und er sie wie ein alter Bettler vor der Haustür anflehte.
    »Der alte Braithwaite hat Andys Vater die Anzüge geschneidert, Lou. Ich war dabei und habe das Band gehalten.«
     
    Hannah wollte an ihrem Geburtstag die Reisfarm besuchen. Louisa auch, nur aus anderen Gründen; sie verstand nämlich nicht, warum die Reisfarm plötzlich aus Harrys Gesprächsrepertoire verschwunden war. In ihren schlimmsten Augenblicken redete sie sich ein, er habe dort eine Frau untergebracht – dieser schmierige Angel würde für jeden den Zuhälter machen. Aber kaum schlug sie die Farm als Ausflugsziel vor, nahm Harry eine arrogante Haltung an und erklärte, dort täten sich gerade große Dinge, und bis die Sache geregelt sei, sollte man sie lieber den Anwälten überlassen.
    Also fuhren sie mit dem Geländewagen nach Anytime, einem Haus ohne Wände, das wie eine hölzerne Bühne auf einer runden, diesigen Insel von sechzig Metern Durchmesser stand, und die wiederum lag im Lake Gatún, einem ausgedehnten, glühend heißen, überfluteten Tal, zwanzig Meilen landeinwärts vom Atlantik am höchsten Punkt des Kanals, dessen Verlauf hier durch eine gewundene Doppelreihe farbiger Bojen bezeichnet wird, die sich rasch im triefenden Dunst verlieren. Die Insel lag am Westufer des Sees in einem zerklüfteten Gebiet aus dampfenden Dschungelbuchten und Flußmündungen und Mangrovensümpfen und anderen Inseln, von denen Barro Colorado die größte war und Anytime die unbedeutendste, von Pendels Kindern nach der Paddington-Bear-Marmelade getauft und seinerzeit von Louisas Vater von seinen Arbeitgebern für ein paar vergessene Dollars im Jahr gemietet; inzwischen hatte er sie ihr freundlicherweise überlassen.
    Der Kanal dampfte

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