Der Schnupfen
wegen Bauarbeiten abgesperrt. Also wohnte der Mann höchstwahrscheinlich in der Nähe. Wir fanden ihn am fünften Tag. Wie? Ganz einfach. Nach den Angaben des Assistenten wurde eine Phantomzeichnung des Gesuchten angefertigt, und die Beamten liefen damit die Concierges in der Rue Amélie ab. Es war nicht irgendwer, sondern ein Wissenschaftler, Doktor der Chemie, mit Namen Dunant. Jérôme Dunant. Daraufhin sah ich das Auftragsbuch durch und entdeckte etwas Seltsames, Die Initialen J. D. tauchten an den drei Tagen vor Proques Anfällen auf. Der Doktor wohnte ein paar Häuser weiter oben auf der anderen Stra-Benseite. Ich ging am frühen Nachmittag zu ihm. Er öffnete mir selbst die Tür. Ich erkannte ihn sofort nach der Skizze unserer Spezialisten.
>Aha<, sagte er, >treten Sie ein…<
>Sie haben meinen Besuch erwartet?, fragte ich und folgte ihm.
>Ja. Lebt Proque?,
>Entschuldigen Sie, aber ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen und nicht die ihren beantworten. Aus welchem Grund meinen Sie, Proque könne nicht mehr leben?<
Jetzt antworte ich Ihnen nicht. Das Wichtigste an der ganzen Sache, Herr Kommissar, ist, daß sie nicht pubIik wird. Hüten Sie sich bitte vor der Presse. Das könnte schlimm enden., >Für Sie?<
>Nein, für Frankreich.<
Ich achtete auf diese Worte nicht. Aber ich bekam nichts aus ihm heraus.
>Leider<, sagte er, >wenn ich rede, dann nur mit Ihrem Chef in der Sûreté und nur, nachdem ich von meinen Vorgesetzten dazu ermächtigt bin.< Mehr sagte er nicht. Er fürchtete, ich gehörte zu den Polizisten, die die Presse mit Sen-
sationen beliefern. Später begriff ich das. Wir hatten mit ihm viel Mühe. Am Ende geschah es so, wie er wollte. Mein Chef nahm Kontakt mit seinen Vorgesetzten auf, und die Zustimmung zu seinen Aussagen mußten zwei Ministerien erteilen.
Bekanntlich lieben alle Staaten den Frieden, und alle bereiten den Krieg vor. Frankreich ist da keine Ausnahme.
Von den chemischen Warfen sprechen alle voller Empörung. Aber auch an ihnen arbeiten alle. Und ausgerechnet er, Dr. Dunant, beschäftigte sich mit der Suche nach Präparaten, psychotrope Depressiva genannt, die in Gas- und Staubform die Moral und den Willen der feindlichen Soldaten lähmen. Was wir am Ende erfuhren? Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfuhren wir, Dr. Dunant arbeite seit über vier Jahren an der Synthese eines solchen Depres-sivums. Er sei von einer bestimmten chemischen Verbindung ausgegangen und habe eine erhebliche Anzahl von Derivaten erzielt. Eines dieser Derivate wies die gewünschte Wirkung auf das Gehirn auf. Aber erst in riesigen Dosen.
Man mußte es löffelweise einnehmen, damit die typischen Symptome auftraten: zuerst eine Phase der Erregung und
Aggressivität, dann die Depression, die in heftige Selbstmordmanie übergeht. Unter solchen Bedingungen führt manchmal der Zufall auf den richtigen Weg. Man substituiert verschiedene chemische Gruppen in der Ausgangsverbindung und untersucht die Eigenschaften der Derivate pharmakologisch. So kann man jahrelang arbeiten, aber manchmal findet man die Verbindung mit den erwünschten Eigenschaften auch auf Anhieb.
Die erste Eventualität ist natürlich erheblich wahrscheinlicher. Dr. Dunant, der wegen starker Kurzsichtigkeit ständig eine Brille trug, war im Laufe der letzten Jahre des öfteren Proques Kunde gewesen. Da er sich ohne Brille nicht rühren konnte, besaß er deren drei. Eine trug er auf der
Nase, die zweite hatte er zur Reserve bei sich, und die dritte verwahrte er zu Hause. So umsichtig wurde er erst, als die Brille, die er trug, ihm einmal im Labor kaputtging und er die Arbeit unterbrechen mußte. Und vor kurzer Zeit, nämlich vor drei Wochen, stieß ihm wieder ein solches Mißgeschick zu. Dunant arbeitete in einem Institut mit der höchsten Isolationsstufe. Vor dem Eintritt in das Labor mußte er sich von Kopf bis Fuß umziehen, er hatte dort sogar besonderes Schuhzeug und Unterwäsche. Alle persönlichen Utensilien ließ er für die Arbeitszeit im Umkleideraum, der durch eine Druckkammer vom Arbeitsplatz getrennt war. Er arbeitete mit einer Art durchsichtigen Plastikkapuze auf dem Kopf. Die Luft wurde mit einer besonderen biegsamen Leitung zugeführt. Weder sein Körper noch die Brille kamen mit den Substanzen in Berührung, die er erforschte. Um sich den Ärger zu ersparen, den er schon einmal gehabt hatte, legte Dunant jetzt vor Arbeitsbeginn die Reservebrille auf ein recht hoch angebrachtes Brett mit Reaktionsmitteln. Als er
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