Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Antwort. Wenn es um Adressen ging, war Katy penibel. Sie schrieb nie einfach nur eine Telefonnummer auf, sondern immer gleich sämtliche Kontaktdaten, als hätte sie Angst, die Leute könnten sonst verschwinden.
Nachdem er an der alten Dame vorbei in den Hausflur geschlüpft war, hatte er zunächst noch einmal an Lauras Wohnungstür geklingelt, ohne Erfolg, dann unter der Fußmatte nachgesehen und schließlich mit den Fingern über der Türzarge entlanggetastet. In einer kleinen Vertiefung hatte ein einzelner Schlüssel gelegen.
Er drehte sich einmal um die eigene Achse und betrachtete die Fotosammlung. Es waren Bilder aus der Obdachlosen-Szene in Berlin. Viele wirkten etwas verwaschen, als wären sie aus großer Entfernung aufgenommen worden. Immer wieder gab es große unscharfe Flecken im Vordergrund. Ungelenke Schnappschüsse aus der Nähe fehlten.
Alle Fotos hatten ein und dasselbe Motiv. Ein pummeliges Mädchen mit wechselnder Haarfarbe – von Giftgrün bis Dunkelrot. Ihre Frisur war asymmetrisch, auf der einen Seite ein kurzer Igelschnitt, auf der anderen Seite lange verfilzte Haare, die ihr über das halbe Gesicht hingen. Im freiliegenden Ohr trug sie eine Reihe von fünf Piercings, der linke Nasenflügel war von einem Ring durchbohrt. Auf mehreren Fotos hielt sie eine Flasche in der Hand, ihr Gesicht wirkte aufgedunsen, und ihre Augen … was war mit ihren Augen?
Jan sog scharf die Luft ein. Ungläubig ging er noch näher an die Fotos heran. Erst jetzt erkannte er, wessen Augen das waren.
Noch vor zwei Tagen hatte er sich in ihnen verloren.
Die Obdachlose auf den Fotos war Laura.
Jan erinnerte sich noch gut an Laura, wie sie in der Schulzeit ausgesehen hatte. Sie war immer recht mager gewesen. Meistens trug sie dieselben Klamotten, obwohl ihre Eltern Geld wie Heu hatten. Dennoch sah sie darin immer großartig aus. Er war weiß Gott nicht der Einzige gewesen, der ihr verstohlen hinterhergesehen hatte.
Was zur Hölle war nur mit ihr passiert?
Laura erschien ihm immer rätselhafter, als hätte sie drei verschiedene Leben. Die schmale kindliche Laura aus der Schulzeit. Die Laura, die offenbar auf der Straße gelebt hatte und aussah wie ein Punk. Und die erwachsene Laura, die so gar nichts mit den anderen beiden zu tun zu haben schien – zumindest äußerlich.
Ihm fiel wieder ein, dass Katy erwähnt hatte, Laura wäre damals von der Schule geflogen und im Anschluss auf ein Internat gegangen. Aber was war danach mit ihr passiert? Und warum hingen all diese Fotos in ihrem Flur?
Er begann die Bilder systematisch durchzugehen. Auf einigen schien Laura gerade einmal fünfzehn zu sein, auf anderen vielleicht Anfang zwanzig. Die Fotos zeigten also einen Zeitraum von etwa fünf, höchstens acht Jahren, in denen Laura auf der Straße gelebt hatte.
Nach einer Weile entdeckte er ein Bild, das Laura schlafend unter einer Brücke zeigte, nah an eine Mauer gedrückt. Direkt daneben eins am Spreeufer, Laura, sitzend, ins Wasser starrend. Mit schwarzem Edding war ein Stern aus fünf gekreuzten Strichen auf das Bild gekritzelt, dahinter stand 7. 8., vermutlich ihr Geburtstag.
Andere Menschen waren selten auf den Fotos zu sehen, hin und wieder entdeckte Jan einen ungepflegten älteren Mann mit langem grauen Vollbart.
Plötzlich hörte er Schritte auf der Treppe im Hausflur. Sein Puls beschleunigte jäh.
Die Schritte wurden lauter.
Unwillkürlich wich er vom Eingang zurück und öffnete leise eine Tür am Ende des Flurs, ohne den Blick vom Eingang zu lösen.
Die Schritte waren jetzt direkt davor.
Lautlos huschte er in das dunkle Zimmer und drückte sich an die Wand.
Die Schritte wurden leiser, stiegen weiter die Treppe empor. Er schloss die Augen und atmete auf. Sein Puls wurde ruhiger, und zugleich machte sich Enttäuschung in ihm breit. Auf einmal dachte er, ihm wäre es vielleicht doch lieber gewesen, von ihr ertappt zu werden. Hauptsache, sie war wieder da.
Er schaltete das Licht an und blinzelte überrascht. Das Schlafzimmer war hell und freundlich, mit einer Fensterfront, die beinah die ganze Wand zum Hof einnahm. Im Gegensatz zum morbiden und überladenen Flur gab es hier nur zwei Rothko-Kunstdrucke an der Wand. Das Bett bestand lediglich aus einer Futonmatratze, der Kleiderschrank dagegen war ein alter, reich verzierter Bauernschrank.
Er setzte sich auf den Futon. Erst jetzt fiel ihm die Nachttischlampe auf, die am Boden direkt neben dem Bett stand. Es war die gleiche Lampe, die Katy für Nele gekauft
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