Der Schock: Psychothriller (German Edition)
zog das Handy mit einer Hand hervor, versuchte die Straße nicht aus dem Blick zu verlieren und drückte mit dem Daumen die grüne Taste. »Hallo?«
»Herr Floss? Ava Bjely hier. Wir müssen reden. Sofort.«
»Ich? Mit Ihnen? Warum?«
»Liegt Ihnen noch etwas an meiner Tochter?«
Jan schluckte. »Ja.«
»Dann stellen Sie jetzt keine dummen Fragen. Kommen Sie einfach her.«
Als Jan auflegte, beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Woher wusste Ava Bjely, dass Sie ihn auf Lauras Handy erreichen konnte? Dann fiel ihm ein, dass er ihr ja selbst erzählt hatte, dass er es gefunden hatte. Trotzdem wunderte er sich, dass sie überhaupt die Nummer kannte.
Kapitel 42
Berlin, 21. Oktober, 23:49 Uhr
Jan schlug das Lenkrad ein, und der Cherokee sprang über die Schwelle des offenen Gittertors. Die Scheinwerfer federten nach oben und streiften die Villa. Im Garten war es stockfinster. Er trat die Bremse, der Wagen rutschte ein Stück, und einige Steine spritzten beiseite. Kurz hinter dem Tor kam der Wagen zum Stehen.
Jan stellte den Motor ab und blieb regungslos in der Stille sitzen. Sein Herz hämmerte dumpf in der Brust, seine Hände zitterten. Nach 60 Sekunden verlosch die Innenbeleuchtung. In der Dunkelheit sah er Greg vor sich. Die toten Augen. Die schwarze Wunde anstelle des Ohrs. Der Geruch nach verbranntem Fleisch.
Jan riss die Tür auf und stieg aus.
Er warf noch einen Blick auf die Schaufel im Fußraum des Beifahrersitzes. So lächerlich das rostige Ding war, es war besser als nichts. Doch bei Ava Bjely würde er sie wohl kaum brauchen.
Die Villa war in der Dunkelheit kaum zu sehen, bis auf die erleuchtete offene Tür, in der jetzt die Silhouette einer Frau im Rollstuhl erschien. Ava Bjelys Schatten fiel zwischen den Säulen hindurch bis an die Kante des Rasens.
Als er näher kam, sah er die Unruhe in ihrem Gesicht.
»Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht«, sagte sie anstelle einer Begrüßung.
Jan blieb vor ihr stehen. Ava Bjely machte keine Anstalten, die Tür freizugeben. Offenbar zog sie es vor, sich an Ort und Stelle zu unterhalten.
»Was für einen Fehler?«
»Was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?«
»Ich musste mich schminken«, sagte Jan brüsk.
Ava Bjely verzog das Gesicht.
»Was für einen Fehler?«, wiederholte Jan.
»Haben Sie Geschwister?«
»Eine Schwester. Warum?«
»Dann verstehen Sie es vielleicht.« Sie holte tief Luft, als müsse sie Anlauf für etwas nehmen. »Geschwister kann man sich nicht aussuchen. Man wird sie sein Leben lang nicht los. Wie Kinder.«
Jan platzte der Kragen. »Gottverdammt, würden Sie mir jetzt endlich mal sagen, was hier los ist? Was wollen Sie? Warum haben Sie mich angerufen?«
Einen Moment lang schwieg sie, als müsste sie mit sich ringen. »Laura war hier.«
»Was?« Jan klappte der Mund auf. »Wann?«
»Gestern Nacht. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Viel wichtiger ist –«
»Warum haben Sie mir kein Wort davon gesagt?«, unterbrach Jan sie wütend.
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, wiederholte sie. »Viel wichtiger ist, dass ich mir Sorgen mache.«
»Sie? Ausgerechnet Sie?« Jan starrte Ava Bjely an.
»Laura ist hier eingebrochen. Zum was-weiß-ich-wievielten Mal, und ich habe sie dabei erwischt. Ich hab ihr Geld angeboten. Sehr viel Geld. Damit sie für immer aus Berlin verschwindet, am besten ins Ausland.«
Jan blieb der Mund offen stehen.
»Sie hat sich geweigert«, fuhr Ava Bjely fort. »Sie war stur wie ein Esel und –«
»Wo ist sie?«, fragte Jan scharf.
Ava Bjely senkte den Blick und betrachtete ihre sehnigen Hände, die sie im Schoß ineinander verschränkt hatte. »Ich habe meinen Bruder gebeten, sie wegzubringen.«
»Wegbringen?«
»Ich wollte, dass sie zur Vernunft kommt. Mein Bruder sollte sie mitnehmen und im Herrenhaus einquartieren.«
»Und?«
Ava Bjely stöhnte. Im Gegenlicht stieg eine Atemwolke über ihr auf. »Mein Bruder gehört nicht unbedingt zu den angenehmsten Menschen.«
Eine eisige Kälte kroch Jan in den Nacken. »Glauben Sie, er tut ihr etwas an?«
»Ich weiß es nicht. Aber mein Bruder hätte sich längst melden sollen. Ich erreiche ihn nicht.«
Die Kälte ging vom Nacken auf Jans ganzen Körper über. »Wo ist dieses Herrenhaus?«
»Ganz in der Nähe, Drosselweg 37. Mein Vater hat es damals zu einer Privatklinik umbauen lassen, aber sie ist nie in Betrieb genommen worden. Er ist einige Monate vor der Fertigstellung gestorben.« Sie reichte ihm einen einzelnen Schlüssel. »Passen
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