Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Sie also auf, wo Sie hintreten. Es könnte baufällig sein.«
Jan starrte den Schlüssel an – und Ava Bjely.
»Was ist? Mögen Sie nun meine Tochter oder nicht?«
Jan nahm den Schlüssel, drehte sich wortlos um und lief zum Wagen. Die orangenen Lichter des Cherokee glühten wie Warnlampen auf, als er den Wagen entriegelte. Er war nicht in der Lage zu denken. Sein Gehirn war ein einziger Knoten. Mechanisch startete er den Wagen, gab Berlin, Drosselweg 37 ins Navigationssystem ein, vertippte sich, schlug wütend mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett und musste die Eingabe wiederholen.
Die Reifen gruben eine kahle Stelle in den Kies, dann rauschte er aus der Einfahrt.
Er brauchte gerade einmal sieben Minuten, bis das Navi ihm signalisierte, dass er am Ziel war. Weder an der weitläufigen Grundstücksmauer noch an der Einfahrt war eine Hausnummer befestigt.
Er parkte und nahm die Schaufel aus dem Fußraum vor dem Beifahrersitz. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich eine richtige Waffe.
Das Gittertor war eine Kopie des schmiedeeisernen Tors der Villa in der Finkenstraße. Das Haus dahinter war noch größer als die Bjely-Villa. Links schloss sich ein kleineres Nebengebäude mit einer offenen Garage an, in der er die Umrisse eines weißen Lieferwagens erkannte. Über dem Dach schnitt eine scharfe Mondsichel in den Himmel.
Das Tor ließ sich nicht öffnen. Jan fand eine mit Efeu bewachsene Stelle an der Mauer, warf die Schaufel hinüber und kletterte auf die andere Seite. Feuchter, hochstehender Rasen, Unkraut und welke Blumen streiften seine Hose. Sein Puls ging rasch. Die Schaufel lag seltsam leicht in seiner Hand. Vor der Eingangstür kam er sich vor wie ein Zwerg. Sie maß fast drei Meter in der Höhe, war zweiflügelig und aus massivem, dunklem Holz.
Als er den Schlüssel ins Türschloss steckte, brauchte er mehrere Anläufe. Verfluchtes Zittern! Das musste doch mal aufhören!
Er hatte ein Knarren erwartet, als er die Tür aufdrückte. Doch sie war gut geölt und gab keinen Laut von sich. In der Dunkelheit des Flures sah er nicht viel, nur dass der Boden und die Wände aus hellem Marmor bestanden. Zu beiden Seiten schwangen sich Treppen empor und mündeten in einer Empore. Direkt in gerader Linie vor ihm befand sich noch eine weitere Tür. Er ignorierte die Treppen, ging auf die Tür zu und probierte, ob der Schlüssel auch hier passte.
Doch die Tür war nicht verschlossen. Langsam, mit angehaltenem Atem, öffnete er sie.
Noch mehr Dunkelheit.
Er tastete die nähere Umgebung der Tür nach einem Lichtschalter ab, fand aber keinen.
Jan packte die Schaufel mit beiden Händen, hielt sie vor sich wie einen Schutzschild und setzte einen Fuß vor den anderen. Nach sechs oder sieben Metern stieß er mit dem Metall an eine weitere Tür. Seine Finger fühlten nach dem Zylinder. Der Schlüssel passte. Der Raum dahinter war ein schwarzes Loch.
Seine Fingerspitzen tasteten über die nackte Wand. Trockener Putz und kleine Risse. Dann eine auf Putz montierte Leitung, an ihrem Ende eine kleine Schalterbox.
Er knipste das Licht an, kniff die Lider zusammen. Er sah sich um, und sein Herz begann zu rasen.
Er war umringt von lebendigen Toten.
Noch nie in seinem Leben hatte er etwas so Furchteinflößendes gesehen, das zugleich so ätherisch und auf grausame Weise schön war. Ihm wurde übel.
Er schloss die Augen. Öffnete sie wieder.
Kein Traum.
Realität.
Der Raum vor ihm sah aus wie eine Galerie. In der Mitte stand ein stabiler Holzstuhl mit hoher Lehne, offenbar im Boden verschraubt. Jan ging die Reihe großer durchsichtiger Blöcke ab, in denen Frauen schwebten. Nackt, jung, leichenblass, alle einander ähnlich wie Schwestern, mit langen aufgefächerten blonden Haaren, die in der Bewegung eingefroren schienen. Sie starrten ihn mit ihren geöffneten stumpfen Augen an, und er musste unwillkürlich an Nikki Reichert denken, wie sie zusammengekauert in seinem Tiefkühlschrank gesessen hatte.
Zögernd trat er näher an einen der Blöcke heran. Irgendwo hinter der Toten war eine Lichtquelle, die ihr eine strahlende Aura gab. Seine Hand glitt über die durchsichtige Oberfläche. Kunstharz. Spiegelglatt. Als hätte jemand in mühevoller Kleinarbeit jede Unebenheit abgeschliffen und wegpoliert.
Sein Blick fiel auf die Handgelenke der Frau. An beiden Pulsadern waren saubere dunkle Punkte, wie Einstichstellen. Jemand hatte sie ausbluten lassen, bevor er sie in Harz gegossen hatte.
Der Gedanke daran, wie
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