Der Schock: Psychothriller (German Edition)
die Frauen gestorben waren und wie sehr sie ihn trotzdem in ihren Bann zogen, verstörte ihn zutiefst.
Wie gefangen stand er da. Und hörte die Schritte in seinem Rücken nicht.
Kapitel 43
Berlin, 22. Oktober, 00:53 Uhr
Laura war immer noch wie betäubt.
Froggy.
Dass der Tätowierte Froggy war, riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie rief sich immer wieder sein Bild ins Gedächtnis, die bleiche, von den schwarzen streifenartigen Ornamenten gezeichnete Haut, die Augen, die Stimme – und fragte sich, ob sie es nicht von Anfang an hätte wissen müssen.
Doch da war keine Erinnerung, kein Bild von ›Froggy‹, das sie neben das des Tätowierten hätte halten können. Es war einfach zu lange her. Da wo die Erinnerungen an ihn hätten sein müssen, war nichts als eine Fehlstelle.
Mit jeder Minute, die verging, wurde sie wütender auf ihn. Und Wut war gut. Besser als Angst. Und besser als das Entsetzen, das sie überkommen hatte und mit einer solchen Wucht in den Abgrund reißen wollte, dass nichts mehr blieb.
Nachdem seine Schritte im Haus verhallt waren, hatte sie immer wieder gelauscht und jede Sekunde damit gerechnet, dass er zurückkommen würde, zu ihr.
Sie fragte sich, was er wohl sagen würde. Und vor allem: was sie zu ihm sagen würde.
Doch je mehr Zeit verging, desto mehr zweifelte sie daran, dass er überhaupt wusste, dass sie im Haus war. Und wenn er es nicht wusste, überlegte sie weiter, was wurde dann aus ihr?
Würde ihre Mutter Buck suchen, wenn sie nichts mehr von ihm hörte? Würde sie jemanden schicken?
Sie sah sich im Zimmer um.
Sie hatte nicht mehr als eine Plastikflasche mit einem Liter Wasser. Das würde nicht lange vorhalten. Zu ihrer Rechten stand der Eimer mit der aufgerissenen Großpackung Toilettenpapier, in einiger Entfernung davon surrte der Heizlüfter, der immer noch auf Stufe 3 lief und den Raum einigermaßen warm hielt.
Das Seil, das die Handschellen um ihre Arme mit der Öse an der Decke verband und von dort bis zur zweiten Öse neben der Tür führte, hatte gerade so viel Spiel, dass sie sich hinlegen oder sich bis auf einen Meter den Wänden nähern konnte.
Jan kam ihr wieder in den Sinn, und dass er vor kurzem kaum mehr als ein paar Schritte von ihr entfernt gewesen war. Erst jetzt begriff sie, weshalb er in Gefahr war und weshalb der Tätowierte ihn so hasste. Ihr stiegen Tränen in die Augen. Wie lange hatte sie auf ein solches Zeichen gewartet? Und jetzt war es da – und machte sie zutiefst unglücklich.
Er wird Jan umbringen, dachte sie. So wie er Buck umgebracht hat. Und alle diese Frauen. Jan würde sterben – wegen ihr.
Fieberhaft wanderte ihr Blick durch den Raum, auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht übersehen hatte. Auf der Suche nach irgendeiner Idee, wie sie das verdammte Seil und diese Tür überwinden konnte.
Der warme Luftstrom aus dem Heizlüfter strich ihr um die Beine. Sie rückte näher an das Gerät heran und ließ sich die Luft ins Gesicht blasen. Bloß nicht wieder heulen. Das Salz brannte jetzt noch auf ihrer Haut. Sie starrte in den rotierenden Ventilator und die glühenden Heizdrähte im Inneren des Gerätes.
Kapitel 44
Berlin, 22. Oktober, 01:44 Uhr
Jan erwachte, als etwas Kaltes auf seine Kopfhaut traf. Von dort floss die Kälte sternförmig an ihm herab; über sein Gesicht, seine geschlossenen Lider, seine Lippen und sein Kinn, um von dort in langen Fäden hinunterzutropfen. Die Flüssigkeit schmeckte nach nichts. Wasser, dachte er.
Er blinzelte benommen, und sofort lief ihm das Wasser in die Augen. Instinktiv wollte er sich die Augen reiben, doch seine Hände waren wie festgewachsen.
Er versuchte, das Wasser wegzublinzeln. In den Wimpern klebten Tröpfchen und machten alles ein wenig unscharf. Er schielte an sich hinab. Eisiges Entsetzen packte ihn. Seine Arme waren bis an die Manschetten des Hemdes auf den Lehnen eines Holzstuhls fixiert, sein Bauch, sein Brustkorb und seine Beine mitsamt der Jeans waren ebenfalls straff umwickelt. Sein Nacken schmerzte höllisch, so als hätte ihn dort etwas Hartes getroffen.
Schlagartig war die Erinnerung wieder da. Das Herrenhaus. Die Frauenkörper. Der im Boden verschraubte Stuhl.
Er hob den Blick.
Kaum einen Meter von ihm entfernt stand der Tätowierte.
Er war ganz in Weiß gekleidet. Die schwarzen streifenartigen Ornamente auf seiner Haut hatten messerscharf gezeichnete Kanten. Dazwischen war die bleiche Haut eines Albinos. Seine fahlen Lippen waren nicht von Hass verzerrt
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