Der Schockwellenreiter
mageres nacktes Mädchen; eine Krankenschwester schor ihm soeben den Kopf.
Für längere Zeit herrschte Schweigen. »Mm-hm, das habe ich erwartet«, sagte er dann endlich. »Aber da ich Sie so gut kenne, wie Sie selbst sich kennen, bin ich zu glauben bereit, daß die Idee nicht von ihnen stammt.«
Dem folgte neuerliches Schweigen, das diesmal Freeman brach. Seine Stimme klang schlaff. »Bringen Sie ihn zurück in seine Unterkunft. Er soll erst einmal für eine Weile darüber nachdenken.«
Ja, Mr. Kelly, ging es dabei um irgend was?
»Man sollte nie vergessen, daß die Fledermäuse während der gesamten Zeit, in der wir ihr Leben erforschten, eine einzigartige Gelegenheit hatten, um unser Leben zu erforschen.«
Ich bin
Was er zu Freeman geäußert hatte, war die reine Wahrheit. Seit er mit dem Abschluß der intensiven Phase des Verhörs wieder angefangen hatte, klar zu denken, hatte er stets damit gerechnet, man werde ihm eines Tages mitteilen, auch Kate sei zur >Vernehmung< geholt worden. Nicht daß das ein Unterschied gewesen wäre; jedenfalls so wenig wie es einen Unterschied ausmachte, ein Schnellkopfrechner zu sein, wenn man in einen Abgrund stürzte. Er saß in dem ihm zugewiesenen Zimmer, das man zweifellos rund um die Uhr überwachte, und fühlte sich, als stehe er vor einem riesigen Publikum auf der Bühne, das nur darauf lauerte, jede Abweichung von seiner vorgeschriebenen Rolle unnachgiebig zu kritisieren. Der eine Faktor, der zu seinen Gunsten arbeitete, war dieser: daß er nach Jahren des Rollenspiels endlich sich selbst spielte. Alle Daten, die sie besitzen, überlegte er, beziehen sich auf andere Personen als mich: Hochwürden Lazarus, Sandy Locke… ja, auch Nickie Haflinger. Wer immer ich jetzt bin - und im Moment bin ich mir über meine Identität nicht so recht im klaren -, ich bin ganz sicher nicht Nickie Haflinger! Er begann in Gedanken eine Liste der Eigenschaften aufzustellen, durch welche er sich von der Person dieses Namens abhob, und ersah, daß der letzte Punkt von allergrößter Wichtigkeit war: Ich kann lieben.
Frostkälte zitterte an seinem Rückgrat entlang, als er darüber nachdachte. In Nickies frühem Dasein hatte er wenig Liebe empfangen oder gegeben. Sein Vater? Voller Widerwillen vor der Belastung, die sein Sohn bedeutete, unvereinbar mit den Pflichten der Vaterschaft. Seine Mutter? Sie hatte sich zumindest eine Zeitlang angestrengt, aber es mangelte ihr an der Grundlage: aufrichtiger Zuneigung; daher ihr Scheitern in alkoholischer Psychose. Seine zeitweiligen Ersatzeltern? Für sie war ein Mietkind so wie das andere gewesen, soviel Dollar je Woche hoch und soviel Probleme breit. Seine Jugendfreundinnen, während er hier im Tarnover lebte? Aber Liebe zählte nicht zum Studienplan. Sie war hier etwas - Zusammengewürfeltes. Sie galt als zerlegbar. Ihre Bestandteile hießen >intensive emotionale Anteilnahme<, >exzessive wechselseitige Abhängigkeit< und >typisch pubertär überhöhte Libido<. Aber nun dagegen, wenn diese neue, noch fremde Person, zu der er sich entwickelte, an Kate dachte, dann ballte sie die Hände zu Fäusten, knirschte mit den Zähnen, verkniff die Augen und barst schier vor ungehemmtem puren Haß. Sein Leben lang hatte er seine tieferen Reaktionen in der Gewalt haben müssen; als Kind, weil man andernfalls, nahm man sich nicht zusammen, derjenige sein konnte, dem der Rest auf dem Nachhauseweg eine Abschmetterung verpaßte; als Teenager, weil im Tarnover alle Handlungen von Aspiranten, bei Tag sowohl wie bei Nacht, der Beurteilung unterlagen, um sich dessen sicher sein zu können, daß sie das weitere Bleiben auch verdienten, und während der ersten fünf Jahre hatte er nichts in der Welt mehr gewollt als zu bleiben, im Laufe der zweiten fünf Jahre war ihm daran gelegen gewesen, das Tarnover für seine Zwecke zu gebrauchen, statt sich fernerhin von ihm gebrauchen zu lassen; und danach, weil das Datennetz sich heute bis in so viele Bereiche des Privatlebens erstreckte, daß der kleinste Fehler die Jäger auf seine Fährte gelockt hätte.
Daraus ergab sich, daß es immer gefährlich gewirkt hatte, sich Gefühlen hinzugeben, ob positiven oder negativen. Es war schlecht, wenn man es dahin kommen ließ, daß man jemanden zu gern mochte; in der Jugend konnte es passieren, daß er oder sie morgen mit einer anderen Gang herumzog, unbeständig wie Quecksilber, selbst bis hin zu Blut und Tränen Feindschaft brüllte und hinterherjohlte; als Erwachsenem konnte es so
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