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Der Schockwellenreiter

Der Schockwellenreiter

Titel: Der Schockwellenreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Brunner
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sich um eine Dienstleistung. Da das Offene Ohr keine Bußen auferlegt, taugt es mehr als die Beichtkabinen. Es erhebt keine Gebühren und ist daher für jeden erschwinglich, der sich keinen Psychiater leisten kann. Weil es keine Ratschläge erteilt, ist es viel angenehmer als das ewige Diskutieren mit diesem Hurensohn (oder dieser Hurentochter), der (die) glaubt, er (sie) wisse auf alles eine Antwort und redet und redet und redet, bis man SCHREIEN möchte. In gewisser Weise ähnelt es dem Gebrauch des I Ching. Es ist ein Mittel, um die Aufmerksamkeit auf die Realität zu konzentrieren. Vor allem jedoch bietet es ein Ventil für all die Frustration, die man lange zu unterdrücken versuchte, aus Furcht, daß Freunde und Bekannte, ließe man sich etwas anmerken, das Versagen nennen könnten. Für manche Unglückliche muß das Offene Ohr eine große Hilfe sein. Die Selbstmordrate bleibt konstant.
Live-Rückblende
    Heute, so besagten die unpersönlichen Instrumente, war es ratsam, das Subjekt voll zu wecken; blieb es zu lange im tranceähnlichen Zustand der Gedächtniserforschung, worin es die vergangenen zweiundvierzig Tage verbracht hatte, konnte seine bewußte Persönlichkeit gefährdet werden. Die Empfehlung war Paul Freeman keineswegs unwillkommen. Er fühlte sich immer stärker von diesem Mann fasziniert, dessen Vergangenheit so lange einen so unwahrscheinlichen Kurs genommen hatte. Andererseits hatte er eine klare Anweisung, direkt aus der Bundesdatenbehörde, die ihm vorschrieb, in der kürzestmöglichen Zeit einen vollständigen Bericht einzureichen. Das war der Anlaß von Hartz' flüchtigem Besuch gewesen. Trotz der Eile war Hartz' Visite nicht auf das üblicherweise erwartbare >Hallo!-Wie-interessant!-Auf-Wiedersehen!< beschränkt geblieben, sondern hatte einen ganzen Arbeitstag beansprucht. Irgendwer in Washington ahnte wohl etwas . oder war auf nur einem Bein so weit vorgeprescht, daß er nun Resultate benötigte, ganz egal, wie sie aussehen mochten.
    Er ging einen Kompromiß ein. Er wollte einen Tag lang ein Gespräch direkt von Person zu Person führen, statt lediglich Fakten aus einem lebenden Gedächtnis abzurufen wie aus den Speichern eines Computers. Dieser Abwechslung sah er recht erwartungsvoll entgegen.
    »Sie wissen, wo Sie sind?«
    Der völlig rasierte Mann befeuchtete sich die Lippen. Sein Blick schweifte ruckartig über die kahlen weißen Wände. »Nein, aber ich nehme an, im Tarnover. Ich habe mir solche Räume immer in dem unansehnlichen Sonderblock an der Ostseite des Geländes vorgestellt.«
    »Was empfinden Sie in bezug auf Tarnover?«
    »An sich habe ich das Bedürfnis, starr vor Furcht zu sein. Aber ich vermute wohl begründeterweise, daß Sie mir dagegen etwas verabreicht haben.«
    »Sie empfanden aber nicht so, als Sie hier zum ersten Mal ankamen.«
    »Verdammt, nein. Zuerst schien es sich um eine wunderbare Sache zu handeln. Wie hätte es denn auf ein Kind meiner Herkunft anders wirken sollen?«
    Auch darüber war alles genau verzeichnet. Als er fünf Jahre alt war, verschwand sein Vater; seine Mutter hielt die Belastung ein Jahr lang aus, dann wich sie zurück in den Schutz der Alkoholnebel. Aber der Junge war widerstandsfähig. Man entschied, daß er ein ideales Mietkind abgeben könne: offensichtlich schlau, ziemlich ruhig, in seinen Gewohnheiten säuberlich und mit einigermaßen guten Manieren. Und so lebte er von sechs bis zwölf Jahren in einer Reihe moderner, fescher, manchmal luxuriöser Firmenwohnungen, die von kinderlosen Ehepaaren belegt waren, die gerade zeitweilige Aufgaben in dieser Stadt auszuführen hatten. Im allgemeinen mochten diese >Eltern< ihn ganz gern, und ein Paar erwog sogar ernsthaft eine Adoption, aber dann nahm es doch davon Abstand, ein Kind mit anderer Hautfarbe auf Dauer an sich zu binden. Jedenfalls, so trösteten sie sich, bekam er bei all dieser Wechselhaftigkeit eine ausgezeichnete Einweisung in den Umstöpsel-Lebensstil. Er schien sich mit dieser Entscheidung voller Anstand abzufinden. Doch danach ging er mehrmals, wenn er mal wieder für einen Abend allein daheim war (was häufig geschah, denn er war ja ein braver Junge, dem man trauen konnte), an den Kommunikator - mit furchtbar schlechtem Gewissen - und wählte, wie er es einer schwachen Erinnerung zufolge oft seine Mutter hatte tun sehen (seine wirkliche Mutter, hauptsächlich in jenen letzten schrecklichen Monaten, bevor in ihrem Kopf irgendein Draht sprang), die zehn Neunen. Dem leeren

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