Der Schockwellenreiter
lang stand, auf die zu achten man besser tat, und die Atmosphäre war - nicht freundschaftlich, aber immerhin kameradschaftlich. Man hatte das Gefühl, eine Gruppe von Menschen zu sein, die das Band eines gemeinsam verfolgten Zweckes umschlang, die sich einer gemeinsamen Forschung widmete; kurz gesagt, es herrschte ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Das war für Nickie so neuartig, daß Monate verstrichen, bis er merkte, wie sehr es ihm behagte. Vor allem aber genoß er es, so vielen Leuten zu begegnen -nicht nur Erwachsenen, sondern auch Kindern und Jugendlichen -, denen es offenkundig Spaß bereitete, Kenntnisse zu besitzen und es zu zeigen. In der Schulklasse daran gewohnt gewesen, den Mund zu halten, die stumpfsinnige, trotzige Ablehnungshaltung seiner Mitschüler nachzuahmen, weil er gesehen hatte, was jenen passierte, die sich mit Wissen wichtig machten, war er nun sehr erstaunt und für eine Weile sogar stark außer Fassung gebracht. Hier versuchte niemand etwas von ihm zu erzwingen. Er wußte, man hatte ihn im Augenmerk, aber das war alles. Man sagte ihm, was er tun könne und was er unterlassen müsse, und damit endete jede Anleitung. Befaßte er sich mit einem der zwölf bis zwanzig Dinge, die ihm zur Auswahl standen, war das genug. Später verschwand sogar die Pflicht, sich an einer Liste zu orientieren. Er durfte sich selber eine Aufstellung anfertigen. Und plötzlich rastete sein Verstand ein. Sein Bewußtsein summte von neuen, aufregenden Einsichten: minus eins hat eine Quadratwurzel, es gibt fast eine Milliarde Chinesen, ein Shannon-Raster kürzt geschriebenes Englisch um fünfzehn Prozent, so also wirkt ein Beruhigungsmittel, das Wort >okay< stammt aus dem Wolof, einer alten Handelssprache in Senegal, worin der Ausdruck wokai soviel bedeutet wie >von mir aus< oder >freilich<. Sein bequem eingerichtetes Privatzimmer war mit einem Computer-Anschluß ausgestattet; im ganzen Center gab es viele Hundert solcher Terminals, bei weitem mehr als eins für jeden Menschen im Institut. Er gebrauchte seinen Anschluß wie ein Besessener und saugte wahre Enzyklopädien von Datenmaterial auf. Sehr schnell war er davon überzeugt, wie notwendig es für sein Land war, das erste zu sein - und kein anderes -, das Weisheit anwenden konnte, um den Lauf der Welt zu lenken. Was anderes sollte angesichts all der schnellen, radikalen Veränderungen noch helfen? Und falls eine repressive, unfreie Nation zuerst darauf stieß. Nickie ließ sich bereitwillig überzeugen, denn es schauderte ihm, wenn er sich daran erinnerte, wie sein vorheriges, das Leben im System des Weisheitsmangels ausgesehen hatte. Er störte sich nicht einmal an der zweimalig im Jahr eingeplanten Entnahme von Hirngewebe, der er und alle anderen Aspiranten sich unterziehen mußten. (Erst später begann er in Gedanken Anführungsstriche um >Aspirant< zu setzen und sich und den Rest mehr als >Insassen< zu betrachten.) Man führte sie mit einer Mikrosonde durch, und der Verlust betrug bedeutungslose fünfzig Zellen.
Und bis zur Untergrenze der Ehrfurcht beeindruckte ihn die Entschlossenheit der Biologen, die in der Reihe von Gebäuden mit nichtssagendem Aussehen an der östlichen Seite des Institutsgeländes arbeiteten. Ihre Distanz zu allem Gewohnten war unerhört groß und beunruhigte ein wenig, aber ihr Anliegen schien bewundernswert zu sein. Organverpflanzungen waren für sie Routine - Herz, Nieren, Lungen -, und sie wikkelten die Transplantationen so unpersönlich ab wie ein Mechaniker, der ein Ersatzteil anbringt. Ihre Ziele waren längst viel ehrgeizigerer Natur: Erneuerung von Gliedmaßen einschließlich sensorischer und motorischer Funktionen, Wiederherstellung des Augenlichts bei Blinden, Externwachstum von Embryos. Dann und wann hatte Nickie schon früher, ohne zu begreifen, was die Slogans besagten, fettgedruckte Anzeigen mit den Überschriften MACHEN SIE NICHT SCHLAPP -WIR TREIBEN AB! und VERKAUFEN VON GEWEBEN/KANN DEN WOHLSTAND HEBEN gesehen. Aber erst im Tarnover sah er tatsächlich einmal einen der regierungseigenen Fötus-Transporter eintreffen und seine Ladung unerwünschter unfertiger Kinder abliefern. Dieser Anblick beschäftigte ihn ein bißchen, aber es fiel ihm nicht schwer, bald einzusehen, daß es für die Noch-nicht-Kinder besser war, hier zu landen und der Forschung zu dienen als in einem Krankenhaus eingeäschert zu werden. Dennoch war sein Interesse an der Genetik danach nicht länger so stark. Natürlich konnte dabei der Zufall eine
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