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Der Schockwellenreiter

Der Schockwellenreiter

Titel: Der Schockwellenreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Brunner
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die Titel eines Dutzends hilfreicher Arbeiten neueren Datums, die sich mit für ihn wichtigen Themen befaßten. Er hörte kaum, was Bosch sagte. Als er das Büro verließ, wankte er auf dem Rückweg zu seinem Zimmer mehr als er ausschritt. In der Nacht blieb er allein und ohne Schlaf, mit einer Frage beschäftigt, die nicht auf dem Programm stand, und er quälte sich zu einer Antwort durch. Mit aller Deutlichkeit war er sich dessen bewußt, daß nicht jeder die gleiche Reaktion wie er gezeigt hätte. Die Mehrzahl seiner Bekannten wäre ebenso begeistert gewesen wie Bosch, hätte Miranda voller Interesse begutachtet, statt mit Unbehagen, Dutzende von sachkundigen Fragen gestellt und dem für sie verantwortlichen Team höchstes Lob gezollt. Aber für sein halbes Leben vorm Alter von zwölf Jahren, im Laufe jener sechs Jahre, die einen Menschen am stärksten formen, war Nickie Haflinger mehr ein Möbelstück gewesen als ein Mensch und überdies gezwungen gewesen, es wohl oder übel zu mögen. Ihm war zumute, als sei er auf dies Problem in einem der routinemäßigen Tests jenes Typs gestoßen, die ein Standardelement seiner Ausbildung war - die Leute darauf zu drillen, auch auf Überraschungen richtig zu reagieren, war ein integraler Bestandteil der Tarnover-Mentalität -, er sah die Frage vor sich, sah sie buchstäblich vor seinem geistigen Auge. Sie stand auf dem Vordruck aus gelbem Papier in jenem Teil, der >in den Begriffen des Moralkalküls< beantwortet werden mußte, gelb zur Unterscheidung vom Grün, das für Fragen aus den Bereichen Staat und Politik Verwendung fand, vom Rosa für Sozialprognostik, und so fort. Er konnte sich sogar haargenau den Stil ausmalen, im dem die Frage formuliert, die Lettern, in denen sie gedruckt wäre; und sie lautete:
Erläutern Sie den Unterschied zwischen a) dem Schmelzen von Erz, aus dem ein Werkzeug zur Herstellung von Waffen werden könnte, und b) der Modifikation von Keimzellenplasma, das eine Person hätte werden können, zur Herstellung eines Werkzeugs. Überschreiten Sie mit der Antwort nicht die fettgedruckte schwarze Linie.
    Und die Antwort, die abscheuliche, entsetzliche Antwort, lief darauf hinaus: 
Kein Unterschied. Keine Unterscheidungsmöglichkeit. Beides ist schlecht.
    Er wollte dieser Schlußfolgerung den Glauben versagen. Diese vereinfachte Bewertung anzuerkennen, das hätte bedeutet, alles aufzugeben, was für ihn in seinem kurzen bisherigen Leben am wertvollsten gewesen war; Tarnover war in umfassenderem Sinn sein Zuhause geworden, als er es vorher für möglich gehalten hatte. Doch er fühlte sich beleidigt, und zwar bis hinein ins Mark seiner Knochen. Ich dachte, ich sei hier, um mit größtmöglicher Vollkommenheit ich selbst zu werden. Nun bin ich nicht länger sicher, ob meine Annahme korrekt war. Angenommen, bloß einmal angenommen, ich bin hier, um die Person zu werden, die man am besten gebrauchen kann, um…
    Miranda starb; ihre Versorgung war alles andere als vollkommen. Aber sie reinkarnierte in zahlreichen Nachfolgern, und in den Zwischenzeiten, wenn gerade keiner fertig war, verfolgte Nickie Haflinger die Erinnerung an sie. Ganz allein und insgeheim rang er mit den verzweigten Tentakeln dieser Problematik, aus Furcht, er könne, falls er darüber mit seinen Bekannten sprach, nicht richtig erklären, was er meinte. Auf das Wort schlecht war er völlig spontan verfallen; er hatte es während seiner Kindheit gelernt, höchstwahrscheinlich von seiner Mutter; er entsann sich vage, daß sie gläubig gewesen war, eine Baptistin oder Pentekostalistin oder irgend so etwas. Seine späteren Zeiteltern hatten alle eine zu nüchterne Haltung besessen, um unter den Ohren eines Kindes solche emotionsgeladenen Ausdrücke zu verwenden. Ihre Wohnungen verfügten selbstverständlich über Computer-Außenstellen, die ihnen zu den neuesten Daten über moderne Kindererziehung Zugang gewährten. Was also bedeutete dieser Begriff eigentlich? Was in der modernen Welt konnte man als böse bezeichnen, als Greuel, als Schlechtigkeit? Er arbeitete sich zu einer Definition vor und entdeckte den letzten benötigten Aufschluß in seiner Erinnerung an eine Äußerung Boschs. Als man feststellte, daß Miranda ein bewußtes Lebewesen mit mindestens durchschnittlichem IQ war, hatte man ihr nicht die Gnade eines stillen Todes erwiesen. Man hielt sie nicht einmal in Unkenntnis der restlichen Welt, so daß sie keine Vergleichsmöglichkeit zwischen ihrem Dasein und dem Leben eines

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