Der Schoepfer
wandte sich von dem Abluftschacht ab. Mit weichen Knien lehnte er sich an die Wand. Dann ging er zur Toilette, schloss den Deckel und setzte sich darauf.
Er war nie ein abergläubischer Mensch gewesen. Dennoch durchdrang ihn nach dieser Erfahrung das Gefühl, es mit etwas Unheimlichem zu tun zu haben, als ginge es um okkulte Praktiken. Er wusste, dass er nicht zufällig auf eine akustische Verbindung zu den Schlachthöfen der Hölle gestoßen war, aber er wusste auch, dass es sich bei dem, was er belauscht hatte, nicht um Hinweise auf ein gewöhnliches Verbrechen handelte, das von irgendeinem dahergelaufenen Psychopathen begangen wurde. Er hatte etwas gehört, was noch abgründiger, noch mysteriöser und noch grauenhafter war als ein Massenmord.
Und er wusste nicht, was er tun sollte, um es zu verhindern. Wenn er jemandem erzählte, was er erlebt hatte, würde man ihm höchstwahrscheinlich kein Wort glauben. Mit seinen zweiundsiebzig Jahren war sein Verstand noch so scharf wie eh und je, aber unter dieser Tyrannei der Jugend – und genau das bedeutete die moderne Welt – würde ein alter Kerl mit einer seltsamen Geschichte in der Mehrzahl der Fälle den Verdacht auf Alzheimer aufkommen lassen. Und wenn ein lange verheirateter Mann zu einem kinderlosen Witwer wurde, lag es dann bei ihm nicht sogar noch näher, dass er in seiner bemitleidenswerten Einsamkeit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte, und sei es durch eine unglaubwürdige Geschichte von Stimmen ferner Opfer, deren Echo durch ein Labyrinth von Rohrleitungen zu ihm drang?
Sein Stolz hielt Bryce davon ab, sofort loszulaufen und seine Geschichte einer Krankenschwester oder einem Arzt zu erzählen, die ihn herablassend behandeln könnten, aber nicht nur sein Stolz legte ihm Fesseln an. Ein primitiver Selbsterhaltungstrieb, den er seit Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatte, warnte ihn, wenn er mit der falschen Person darüber sprach, würde das sein Ende sein, und dieses Ende würde ihn rasch ereilen.
Sein Zittern ließ nach. Er ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Das gehetzte Gesicht im Spiegel beunruhigte ihn, und er wandte sich davon ab.
Als er aus dem Badezimmer kam, waren zwei Krankenschwestern fast fertig damit, seine Bettwäsche zu wechseln. Das Frühstücksgeschirr war abgeräumt worden. Ein Pillenschälchen stand auf seinem Nachttisch, und er hatte den Verdacht, der Krug sei mit Eiswasser gefüllt.
Er bedankte sich bei ihnen.
Sie lächelten und nickten, ließen es aber an den kleinen oberflächlichen Plaudereien fehlen, wie man sie von den meisten Krankenschwestern zur Beruhigung der Patienten gewohnt war. Ihr Lächeln erschien ihm aufgesetzt. Sie strahlten Eile aus. Nicht die Geschäftigkeit von Frauen, die eifrig ihre Arbeit erledigten, sondern die angespannte Ungeduld von Leuten, die eine Aufgabe schleunigst hinter sich bringen wollten, um sich endlich etwas anderem zu widmen, was ihr wahres Ziel und ihre Leidenschaft war. Als sie das Zimmer verließen, blickte sich eine von ihnen noch einmal um, und er glaubte, Hass in ihren Augen und die Andeutung eines triumphierenden Hohnlächelns zu sehen.
Paranoia. Er musste sich vor Paranoia hüten.
Oder vielleicht sollte er – ganz im Gegenteil – seiner Intuition trauen.
27.
Vom Stadtzentrum zu Nummys Wohngegend führte das große Abflussrohr bergauf, aber nie so steil, dass sie schwer atmeten.
Nummy konnte aufrecht gehen. Mr Lyss war etwas zu groß für das Rohr, aber da er ohnehin immer einen gebeugten Gang hatte, sogar draußen im Freien, stieß er sich den Kopf nicht an.
Aufgrund seiner gebeugten Haltung erinnerte Mr Lyss Nummy manchmal an eine Hexe, die er in einem Film gesehen hatte, wie sie sich über einen riesigen eisernen Kessel beugte und darin einen Zaubertrank mischte. Bei anderen Gelegenheiten ließ Mr Lyss Nummy an Ebenezer Scrooge in einem anderen Film denken, in dem sich der knauserige alte Scrooge über einen Haufen Geld beugte und es immer wieder zählte.
Mr Lyss erinnerte Nummy nie an irgendwelche netten Leute aus den Filmen, die er kannte.
Wenn man die Abkürzung durch das Abflussrohr nahm, war es immer eine gute Idee, eine Taschenlampe bei sich zu haben, aber tagsüber kam man auch ohne Taschenlampe zurecht. In gleichmäßigen Abständen warfen Gullys in der Straße über ihren Köpfen, die mit Gittern abgedeckt waren, Waffelmuster aus Sonnenschein auf den Boden des Rohres.
Zwischen den Waffeln aus Sonnenschein war die Dunkelheit für Nummys
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