Der Schoepfer
amüsanten Ansichten und grotesker Kleidung; er weigerte sich, seinen heruntergesackten Hintern offen zur Schau zu tragen, damit jeder ahnungslose und unreife junge Dummkopf etwas zum Lachen hatte.
Im Bad des Zweibettzimmers setzte er sich zum Urinieren hin, was er schon immer getan hatte, aus Respekt vor dem Umstand, dass Renata das gemeinsame Badezimmer säuberte. Er zog das Sitzen außerdem dem Zielen vor, da sich ein Tremor in seinen Händen, der zwar nicht oft, aber unvorhersehbar auftrat, verheerend auf das Zielen auswirken konnte.
Als Bryce nach einem anfänglichen Seufzer der Erleichterung stumm dasaß, hörte er ein eigentümliches Geräusch, das er anfangs für den Warnruf eines Vogels hielt, einen Aufruf zur Flucht, auf den hin sich der ganze Schwarm in den Himmel erheben würde. Er befand sich in der oberen der zwei Etagen des Krankenhauses, mit nichts als dem Dach darüber.
Als der Ruf wieder ertönte, klang er weniger nach einem Vogel und sowohl beunruhigender als auch mysteriöser. Das Bad hatte keine Fenster, durch die der Laut zu ihm dringen konnte. Und wenn Bryce es sich recht überlegte, musste es eine Art Dachboden geben, in dem Leitungen und Rohre verliefen, was den Schrei stark gedämpft hätte, wenn er vom Dach gekommen wäre.
Als er sein Geschäft erledigt hatte, hörte er andere Geräusche, nicht so durchdringend wie das erste, sondern eher ein leises, verstörendes Stöhnen, das aus einiger Entfernung zu ihm drang.
An einer Wand strömte dicht unter der Decke warme Luft aus ein paar Lüftungsschlitzen. Er konnte die wohltuende Wärme auf seinem Gesicht fühlen, als er den Kopf hob. Dieser Luftzug schien das Stöhnen nicht zu ihm zu tragen.
Dicht über dem Boden war eine größere Öffnung in der Wand mit einem Gitter bedeckt. Er vermutete, dahinter müsste ein Abluftschacht liegen.
Obwohl die Geräusche mittlerweile verklungen waren, kniete Bryce sich hin und senkte seinen Kopf zu dem Gitter. Anfangs hörte er nichts, immer noch nichts, aber dann setzte das gespenstische Stöhnen wieder ein, und gleich darauf erhob sich eine weitere Stimme. Die erste war eindeutig das Stöhnen eines Mannes, doch die zweite klang eher nach einer Frau. Beide schienen in großer Not zu sein, ihre Schmerzen unerträglich.
Bryce glaubte, er müsse Leute im Aufwachraum der chirurgischen Abteilung oder auf der Intensivstation hören, wo Patienten mit extremen Verletzungen oder Beschwerden diverser Art lagen. Aber als er genauer hinhörte, hörte er in der Ferne eine weitere Frau schluchzen, und so erbärmlich, wie ihr Schluchzen klang, kündete es von mehr als nur körperlichem Schmerz. Einen Moment lang konnte er den Charakter dieses Schluchzens nicht deuten, doch dann wusste er plötzlich, dass es sich um einen Ausdruck maßlosen Entsetzens handelte, ebenso wie bei dem Stöhnen der anderen.
Je klarer ihm wurde, was er hörte, desto mehr hörte er. Eine vierte Stimme verflocht sich mit den anderen, die einer weiteren Frau: »O Gott … o Gott … o Gott … Gott, bitte … o Gott … bitte … « Ihr Gebet war ein verzweifeltes Flehen, in einem Zustand von derart gewaltiger Furcht hervorgebracht, dass Bryce Walker erschauerte und ihm der kalte Schweiß im Nacken ausbrach.
Furcht mochte durchaus ein Bestandteil der Krankenhauserfahrung eines jeden Patienten sein, aber selten eine derart gesteigerte Furcht. Und Bryce konnte sich keine äußeren Umstände ausmalen, unter denen eine ganze Gruppe von Patienten von kollektivem Grauen ergriffen werden könnte.
Während er auf allen vieren den fernen Stimmen lauschte, die entgegen der schwachen Luftströmung zu ihm emporstiegen, sagte er sich, es müssten Schauspieler in einem Film sein, der in einem Fernseher in einem Zimmer im tieferen Geschoss lief, doch diese Erklärung war höchstens einen Moment lang glaubhaft. In der Geschichte des Kinos hatte sich kein Gruselfilmregisseur jemals damit zufriedengegeben, seine Schauspieler a cappella schreien zu lassen, sondern ihre Schreie, um die Wirkung zu steigern, mit Musik unterlegt. Diese erbärmlichen Schreie wurden jedoch nicht von Musik begleitet.
Als seine geballte Aufmerksamkeit sein Gehör schärfte, schnappte er weitere Stimmen auf, nicht so laut wie die ersten vier, aber von Grauen erfüllt. Dann wurde das Flehen der betenden Frau um göttliches Einschreiten zum Verstummen gebracht, aber nicht durch einen sauberen Schnitt und auch nicht abrupt, sondern über mehrere Sekunden, als hätte jemand ihren Hals
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