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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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Zivilisation waren und der Junge sich nicht auf seine Kosten aufspielen konnte. Die einzige Heldentat, die ihm zuteil wurde, war, den Krankenwagen zu rufen und sich von irgendeiner Telefonistin Anweisungen geben zu lassen.
    Die Kälte und die Schmerzen kämpften um Sveinns Aufmerksamkeit. Die untere Hälfte seines Körpers war besonders kalt, als läge er halb in einer Schneewehe. Er hob den Kopf, spürte sofort einen hämmernden Schmerz, schaute an sich herunter, und als er sah, dass er sich in die Hose gepinkelt hatte, wäre er am liebsten gestorben. Alleine oder nicht alleine. Dieser Junge, der ihm so unsäglich auf die Nerven ging, war eigentlich keine ernstzunehmende Gesellschaft.

    »Hol eine Schere«, stöhnte Sveinn. »In der Küche, schnell.«
    Der Junge gehorchte sofort und wusste offenbar, wo die Küche war. Er ging so in seiner Rolle auf, dass er auf Befehl Wasser gekocht hätte, ohne nachzufragen wofür.
    Sveinn lag mit Cindy Sherman als Kissen auf dem Rücken, die neue Glühbirne in seiner Hosentasche in tausend Stücke zerbrochen und immer noch von Träumen geplagt. Lieber hätte er sich einsam seinen blutigen Alpträumen überlassen, als pissnass dazuliegen, diesem schrägen Vogel ausgeliefert, der sich angewöhnt hatte, ihn mit seiner Hilfsbereitschaft zu überfallen.
    Da kam er schon mit der Schere angelaufen.
    »Hat deine Mutter dir nie gesagt, dass man mit einer Schere in der Hand nicht laufen soll?«, sagte Sveinn und versuchte, freundlich zu lächeln.
    »Was haben Sie gesagt?«, fragte der Junge, offenbar mit Tomaten auf den Ohren vor Aufregung, und ließ seinen Blick ängstlich durch den Raum schweifen. Vielleicht versuchte er, sich vorzustellen, wie das Unglück passiert war. Daraus konnte man ihm eigentlich keinen Vorwurf machen.
    Wenn es nach den Zeitungen ging, passierten die meisten schweren Unfälle im Haushalt, aber das konnte Unfug sein. Wenn Sveinn Berichte über diese ganzen Unfälle im Haushalt las, stellte er sich immer alte Menschen vor, die an Schwindel und Alzheimer litten, oder ahnungslose Kinder – nicht einigermaßen rüstige Männer, die sich an Büchern verletzten.
    »Wie alt bist du, Junge?«, fragte er.
    »Neunzehn.«
    »Schneid mal meine Hose auf, wie in dieser Fernsehserie, Notaufnahme, oder wie die heißt. Kannst du das?«
    »Nein«, sagte Lárus. »Ich meine, der Krankenwagen kommt in zehn Minuten, und die Frau hat gesagt …«

    »Die Frau muss das gar nicht erfahren«, fiel Sveinn ihm ins Wort. »Die glaubt bestimmt, ich hätte mir das Rückgrat gebrochen, was hast du der denn erzählt? Guck mal hier.« Er drehte sich leicht, obwohl er sich dabei fühlte, als hätte ihm jemand die Schere in die Schulter gerammt. »Guck mal, das Rückenmark steckt noch ganz fest in seinem Gehäuse.«
    Er zog den Kragen seines Hemdes herunter und zeigte ihm, wie sich die Knochen unter der Haut wölbten. »Mein Schlüsselbein ist gebrochen, und irgendwas ist mit dem Knie. Das ist alles, ich schwöre es. Beeil dich, Junge. Mach einfach, was ich dir sage, das ist schon okay.«
    Der Junge kniete sich hin und begann zu schneiden. Er war geschickt und schnell, das musste man ihm lassen, obwohl er erst neunzehn und aus irgendwelchen tragischen Gründen noch nicht im Stimmbruch war. Er schnitt und riss abwechselnd vom Knöchel bis zur Leiste und hackte dann mit der Schere die Taschen und doppelten Nähte und alles, was im Weg war, durch.
    Als er das zweite Hosenbein aufgetrennt hatte, riss Sveinn ihm die Schere aus der Hand und stöhnte vor Schmerz, als er den zerschnittenen Baumwollstoff unter seinem Körper herauszog und selbst begann, die patschnasse Unterhose aufzuschneiden. Lárus bot an, ihm zu helfen, aber Sveinn hielt ihn durch einen Blick davon ab und sagte: »Da hinten im Schrank sind Unterhosen. Hol mir schnell eine. Sie sind weiß mit braunen und roten Streifen.«
    Es war schwieriger als erwartet, die Sache mit einer Hand zu bewerkstelligen, wenn man nicht richtig hinschauen konnte und auf dem Rücken lag wie ein altes Mutterschaf, das nicht mehr hochkam. Zweimal kratzte er sich blutig und schnitt sich aus Versehen an der Stelle, wo sich der Bauch über den Bund wölbte.
    Er schleuderte die Hose in die Ecke und den Unterhosenfetzen
hinterher, nahm ein schmutziges T-Shirt vom Fußboden, trocknete sich damit ab und pfefferte es anschließend in dieselbe Ecke. »Meinen Sie die hier?«, fragte Lárus und hielt etwas hoch, das Sveinn, erschöpft von der Anstrengung, nur undeutlich

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