Der Schoepfer
unkontrollierbarer, kindlicher Angst, etwas zu verpassen . Er platzte fast vor Neugier und tat Sveinn fast leid. Jemand anders hätte bestimmt mehr Mitgefühl gehabt. Hätte ihm erlaubt, den Fortlauf der Dinge mitzuverfolgen, ihm sogar angeboten, ihn auf seinem Ausflug zu begleiten. Aber Lárus’ Verhalten hatte etwas Unentschuldbares – eine widersprüchliche Sündhaftigkeit, die man unmöglich begreifen konnte.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Sveinn. »Hör einfach auf, darüber nachzudenken.«
Plötzlich wurde Lárus wachsam. Sein unschuldiger Gesichtsausdruck verdunkelte sich. Vielleicht hatten die Götter – aus Boshaftigkeit oder schonungsloser Nachsicht – seine Gedanken
darauf gelenkt, wie sein Eifer auf Sveinn wirken musste. »Ja, nee, nee«, sagte er, »ich hab mir keine besonderen Gedanken darüber gemacht.«
»Danke für deine Hilfe«, sagte Sveinn. »Du hast natürlich was bei mir gut. Sag Bescheid, wenn ich was für dich tun kann, Junge.« Er nickte ungeduldig in Richtung des Silbergrauen, der den Weg versperrte.
»Keine Ursache.« Lárus schluckte angestrengt, ging dann gebeugt die paar Schritte zum Wagen und fuhr ihn an den Rand, damit Sveinn weiterfahren konnte.
Lárus und sein Auto wurden im Rückspiegel immer kleiner, bis sie verschwanden, und da begann Sveinn, ihn zu bemitleiden. Das Verständnis, das sich einen Moment vorher noch nicht einstellen wollte, brach jetzt wie eine Flutwelle aus ihm heraus, die das Auto mitriss und auf eine fremde Straße spülte, die so aussah wie die ursprüngliche Straße, sich aber an einem ganz anderen Ort befand. In Zeit und Raum gab es unzählige Löcher; das hatte er schon immer gewusst. Und die menschliche Natur war wie Wasser, das durch diese Löcher hinein- und hinausfloss. Im einen Moment war man abweisend und unsensibel, und im nächsten Moment konnte man sich perfekt in andere hineinversetzen. Jetzt fand er auf einmal, dass er überhaupt kein Recht hatte, diesen gutwilligen Jungen, der natürlich ein Vorbild brauchte, ständig abzuweisen – jedenfalls schien er etwas zu brauchen, das Sveinn ihm verweigerte.
Unsinn. Schließlich war er Lárus nichts schuldig. Schließlich war Lárus nicht sein Sohn. Er war nur ein junger Mann auf der Suche, der auch mal an seine Grenzen stoßen musste.
Der Sturm schlug und peitschte die Wellen, ihre Kronen waren weiß, so weit das Auge reichte. Der Himmel zerrissen von Wolkenfetzen. Das Gefühl im Körper, die Gedanken, ja,
alles war irgendwie aufgewühlt. Gottes Bart wie welkes Gras am Straßenrand. Aufgewühlt und zerfetzt. Deswegen sehnte sich die Welt nach dem Tod. Nach dem Mann mit der Sense. Dem Schnitter, der alles von Bürden und Unebenheiten befreite. Alles glatt und schön, gestutzt und geschnitten und geruchlos machte. Leichter als Ozon und frei von jeder Regung – damit frei von allem Unerwarteten und Unangenehmen.
Er musste an Lóa denken, die vor nur zwei Tagen dieselbe Strecke gefahren war – bei weniger Windstärken, die sie bestimmt durch den Sturm in ihrem Kopf ausgeglichen hatte. Mit einem unschuldigen Püppchen auf dem Rücksitz. Oder im Kofferraum? Hatte sie die Schwarzhaarige auf den Rücksitz oder in den Kofferraum gelegt? Das hing natürlich davon ab, ob sie meinte, sie aus den Klauen des Bösen befreit oder sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen zu haben. Aber warum reichte das nicht? Warum konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen, nachdem sie sein schönstes Werk gestohlen hatte? Vielleicht war sie tief im Inneren in ihn verliebt.
Was hatte Freud noch mal gesagt? Hinter jeder Angst steckt Verlangen, und hinter jedem Verlangen steckt Angst. Mit anderen Worten: Wenn einen etwas wirklich berührt, werden Augen und Herz davon angezogen. Er hatte sie zweifellos auf irgendeine Weise berührt. Sonst wäre sie nicht so aufdringlich.
Reykjavík war eine merkwürdige Einöde. Die Hälfte der Stadt halb bebautes, unfertiges Hinterland mit riesigen, hässlichen Kästen. Früher war sie mal ein nettes Fischerdörfchen. Jetzt ähnelte sie mehr einer müden, kulturlosen Industriestadt wie Leeds oder Manchester.
Die vielen Autos stressten Sveinn und machten ihm bewusst, dass er seit Wochen oder Monaten nicht mehr in der Stadt gewesen
war. Er war ein Landmensch geworden. So wie Kjartan. So wie Lárus. Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Vielleicht war es an der Zeit, einen dieser Kästen am Rand von Reykjavík zu erobern. Es war ohnehin nur Zufall gewesen,
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