Der Schoepfer
den ersten Sonnenstrahlen durchs Schlüsselloch oder durch die Fensterscheiben hereingeschlüpft sein.
»Wonach suche ich eigentlich?«, dachte sie und blieb mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust und tauben Händen in der Tür zur Küche stehen. Sie schaltete das Radio ein, ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und versuchte, tief durchzuatmen, aber die Luft war zähflüssig.
Die Erkennungsmelodie der Nachrichten schallte in ihren Ohren, und sie hörte teilnahmslos die Meldung, dass der Vesturlandsvegur wegen Windböen von bis zu fünfundvierzig Metern pro Sekunde gesperrt und fünf Autos von der Straße abgekommen seien. In Kjalarnes wurden die Leute angehalten, ihre Häuser nicht zu verlassen, und die Einwohner von Reykjavík sollten alle losen Gegenstände sichern, da der Wind im Hauptstadtgebiet gegen Abend zunehmen würde.
Die nächste Meldung über Diebesgut, das in einer Kellerwohnung im Hlídar-Viertel gefunden worden war, berührte Lóa seltsamerweise. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass Margrét womöglich etwas in dieser Wohnung versteckt hatte, das einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort geben könnte.
Schwerelos sprang sie auf die Füße, in ihrem Eifer und Ungestüm der materiellen Wirklichkeit zeitweilig entronnen, und begann, Margréts Zimmer zu durchsuchen. Sveinn lag immer noch in derselben Stellung im Bett und gab keinen Laut von sich, während Lóa den Inhalt sämtlicher Schubladen durchwühlte und sich anschickte, die Kommode von der Wand abzurücken. Da stöhnte er im Schlaf, leise, aber so kläglich, dass sich Lóas Rückenmuskeln anspannten und sie beschloss, lieber erst weiterzumachen, wenn er aufgestanden war. Dann konnte sie auch den Kleiderschrank wegrücken und die Matratze hochheben.
Sie durchkämmte Ínas Zimmer ebenso gründlich und räumte gleichzeitig auf, denn es beruhigte sie, jedes Ding an seinen Platz zu stellen.
Gerade wollte sie in ihrem eigenen Schlafzimmer weitermachen, kam dann aber zu dem Entschluss, dass Margrét nicht dreist genug war, dort etwas zu verstecken, und ging stattdessen in den Abstellraum, wo sie Kisten mit altem Geschirr, Schulbüchern,
Zeitschriften, Klamotten und Spielsachen durchwühlte. Da lag das Zelt, das sie nie benutzten, Schlafsäcke, Angeln, ein Campingkocher und eine Kühltasche. Werkzeug, Nägel und Schrauben, alte Farbreste, eine Küchenmaschine und eine wuchtige Saftpresse, die nie etwas anderes gepresst hatte als die Fläche, auf der sie abgestellt worden war.
Im untersten Regal bei der Tür stand eine Kiste mit Sachen ihres Vaters, die sie nach der Beerdigung bekommen hatte. Sie hatte sich noch nicht getraut, sie zu öffnen, und verstand nicht, warum der trauernden Witwe so daran gelegen war, sie loszuwerden. Vielleicht aus falsch verstandener Rücksicht auf Lóa – vielleicht dachte sie, dass Lóa den Verlust besser verarbeiten würde, wenn sie irgendwelche Dinge anfasste, die ihr Vater unzählige Male angefasst hatte. Ein solcher Ahnenkult war Lóa jedoch fremd, und die Vorstellung, dass die Erinnerung an Menschen mit Gegenständen verknüpft war, erfüllte sie mit Abscheu.
Margrét hingegen hatte sich für die Kiste interessiert. Obwohl sie sich eigentlich seit langem für nichts mehr interessierte. Lóa hatte ihr gesagt, sie dürfe sich den Inhalt natürlich anschauen, aber nichts herausnehmen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.
Lóa spürte ihre Finger zittern, obwohl sie ganz ruhig wirkten, und ihr Herz in der Brust hämmern, als sie sah, dass ganz oben in der Kiste ein Brief lag: Tinte auf dickem Papier, schwarze Worte auf beigefarbenem Grund.
Aber er war nicht von Margrét, sondern von einem Jugendfreund ihres Vaters, der in Kopenhagen wohnte, und als sie die Kiste näher untersuchte, fand sie mindestens zwanzig Briefe, die meisten von dem Freund aus Dänemark.
Lóa setzte sich mit der Kiste im Arm aufs Sofa, nahm einen
Gegenstand nach dem anderen heraus und legte sie auf den Couchtisch. Eine Pfeife in einem Lederetui. Wann hatte ihr Vater Pfeife geraucht? Vielleicht als junger, gestelzter Mann – als er meinte, das richtige Bild abgeben zu müssen, wenn er ein richtiger Bauer werden wollte. Die dicken Ledergurte, mit denen er beim Gewichtheben seine Handgelenke schützte, abgenutzt und weich von der Reibung auf der verschwitzten Haut. Ein Parker-Tintenfüller. Seine Herzmedikamente.
War ihre Mutter noch ganz bei Trost? Was sollte Lóa mit den Medikamenten ihres verstorbenen Vaters anfangen? Die hatten ihm
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