Der Schoepfer
als befände sie sich im freien Fall, als hätte sie just in diesem Moment den Boden unter den Füßen verloren und stürze von einer Felskante.
»Du solltest jetzt besser gehen. Ich will, dass du gehst«, sagte sie.
Einen derartigen Befehl konnte er auf keinen Fall befolgen; er wollte nicht behandelt werden wie ein Hund mit schmutzigen Pfoten.
»Okay«, sagte er, »aber bevor ich gehe, muss ich was essen, damit ich die Schmerztabletten nehmen kann, sonst kann ich mich nicht aufs Fahren konzentrieren, verstehst du?«
»Nein! Nein, hau ab und nimm dieses abartige Ding mit!«
Sie zeigte auf die Puppe, die vollkommen unschuldig auf dem Sofa lag.
»Das abartige Ding ist hier, weil du es ohne Erlaubnis mitgenommen hast«, sagte er mit lauter Stimme.
»Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung!«, schrie sie. »Wie oft soll ich das denn noch sagen?! Was soll ich denn noch tun? Über den Fußboden kriechen? Mich in Glasscherben knien? Ich hab dir Schadenersatz angeboten, aber du tust so, als hättest du es gar nicht gehört. Nein, es macht dir Spaß, dich aufs hohe Ross zu setzen und mir Moralpredigten zu halten, als hättest du irgendeinen Grund dafür!«
»Jetzt hör mal, meine Liebe …«
»Ich bin verdammt noch mal nicht deine Liebe!«
»Ich verstehe ja, dass das schwierig für dich ist, aber ich kann nichts dafür, dass dein Vater tot ist«, sagte Sveinn und versuchte, nicht so zu klingen, als würde er sich deswegen immer noch schuldig fühlen.
»Hör auf, über meinen Vater zu reden, du hast ihn doch gar nicht gekannt!«, schrie sie.
»Du hast doch mit dem Thema angefangen«, entgegnete er und versuchte, herablassend zu grinsen, aber in Wirklichkeit war ihm die Sache überhaupt nicht mehr egal. Lóas Wut war so überzeugend, dass er sich wie ein Schuft fühlte. Wie der große, böse Wolf, der gerade alles zerstört hatte.
»Hör zu«, sagte er, »ich kann nicht sofort fahren. Das heißt im Klartext: Ich will keine Sekunde länger bleiben, aber ich muss erst richtig wach werden und was essen und die Tabletten nehmen, bevor ich Auto fahren kann. Außerdem müssen wir noch über diese Vorfälle reden. Wie soll ich mir sicher sein, dass du mich nicht weiter belästigst?«
Lóa warf den Kopf zurück und stieß ein Lachen aus, das Sveinn unheimlich war und seine Abneigung noch verstärkte. Sie setzte sich und hielt sich die Hände vor die Augen, wobei
ihr Kleid über ihre nackten Knie rutschte und die Nässe zwischen ihren Zehen glänzte. »Du hast bestimmt fanatische Fans, aber ich gehöre nicht dazu!« Ihre Stimme war nicht nur laut, sondern so schrill, dass sich Sveinns Trommelfell zusammenkrampfte. »Ich habe die Puppe nicht mitgenommen, weil ich sie für ein unschätzbares Kunstwerk halte.«
Sveinn wollte sich keine Blöße geben und sagen, was ihm durch den Kopf ging: dass die Schwarzhaarige zwar kein unschätzbares Kunstwerk, aber dennoch das Beste war, was er bisher produziert hatte, und dass er nach Ansicht vieler Menschen der Fähigste in seinem Fach war. Was bedeutete, dass die Schwarzhaarige wahrscheinlich das weltweit beste Exemplar ihrer Art war, Spieglein, Spieglein an der Wand …
»Sie ist kein unschätzbares Kunstwerk«, sagte er, »aber sie ist sehr wertvoll, und ich muss den Verpflichtungen nachkommen, die ich eingegangen bin.«
»Sehr wertvoll«, äffte Lóa ihn nach. »Wertvoll«, wiederholte sie und lachte wieder dieses fatale Lachen.
Was meinte sie? Durfte er etwa nicht über den Wert der Puppe reden, weil ihre Tochter verschwunden war? Als wären diese beiden Dinge auf irgendeine Weise vergleichbar.
Sveinn bemerkte nicht zum ersten Mal, dass es Frauen schwerer fiel als Männern, zwischen einer Frau und einer Puppe zu unterscheiden. Seine Kunden verglichen die Puppen zwar ständig mit echten Frauen, meist zugunsten der Puppen, weil sie im Leben nur schlechte Erfahrungen gemacht und Ablehnung erfahren hatten, aber trotzdem waren das in ihren Augen zwei unterschiedliche Dinge. Frauen waren hingegen immer unglaublich empfindlich, wenn es um solche Vergleiche ging. Als würden sie überhaupt nicht begreifen, dass man keine Äpfel mit Apfelsinen, sondern Äpfel mit Weihnachtskugeln verglich.
»Ich bin nicht der Feind oder der Täter, nach dem du suchst«, sagte Sveinn. »Ich bin da nur aus Zufall reingerutscht, hab mich dazu verleiten lassen, ein Preisschild auf einen Frauenkörper zu kleben, und dann festgestellt, dass man damit Geschäfte machen kann. Deshalb habe ich einen
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