Der Schoepfer
hätte. Lóa war nicht mehr Lóa. Sie war ein namenloser Gefühlsausbruch, ein winziger Galletropfen in der Speiseröhre des Universums. Es war wie eine Art Anti-Nirwana, denn obwohl Ekstase und Verschmelzung stattfanden, folgte kein Frieden oder Wohlgefühl. Es war erleichternd, alles rauszulassen, sich wie ein Stück Dreck behandeln zu lassen, aber auch schmerzhaft und zerstörend.
»Du kriegst den Fick für meine Schulden, und dann sind alle zufrieden, okay?«, hörte sie sich sagen, und dieses Wort,
Fick , brachte ihr schonungslos ins Bewusstsein, dass sie keine Kontrolle mehr über sich hatte – das war keine Formulierung, die sie normalerweise benutzte –, sie musste in Deckung kriechen, bevor sie sich noch mehr erniedrigte, falls es nicht ohnehin schon zu spät war, falls sie nicht bereits endgültig das Privileg eingebüßt hatte, als anständiger Mensch angesehen zu werden.
Lóa schrie auf, als sie mit dem Knie gegen die Türschwelle stieß, und ihre Arme zitterten, als sie sich völlig entkräftet in Margréts Bett hievte. Die Welt hatte sich in ein Karussell verwandelt, das sich zu schnell drehte, und Lóa wurde seekrank, und nichts drang mehr in ihre kreisenden Gedanken, die wie trübes Wasser in den Abfluss gesaugt wurden.
Der Puppenmacher war ins Zimmer gekommen und sagte etwas.
Sie dachte, dass sie ihn vielleicht besser verstehen würde, wenn sie ihn anschaute, während er sprach, doch als sie sich zu ihm gedreht hatte und seine fettglänzenden Haare, seine schütteren Bartstoppeln, seinen Gipsarm in der Schlinge und seine beschämte Abneigung sah, wirkte er noch unverständlicher und fremder.
War sie so unerträglich? Vielleicht stieß ihn nicht nur ihr Verhalten ab, sondern auch sie selbst – ihre Erinnerungen, ihre Gedanken und ihr Körper? Warum sehnte sie sich nach Verständnis und Anerkennung von einer Person, die sie nichts anging?
»Ich kann nicht mehr«, sagte sie.
Er schaute schnell weg.
Lóas Augen brannten, und sie konnte sie nicht offen halten. Doch bei dem Gedanken einzuschlafen bekam sie Panik. »Geh nicht«, sagte sie. »Weck mich, bevor du gehst. Und geh
sofort ans Telefon, wenn es klingelt, oder mach die Tür auf und weck mich, egal, wer es ist.«
Sie hörte, wie er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog.
Dritter Teil
XVII
Mittwochabend
Es war kurz vor Mitternacht, und Sveinn schlurfte an der Wohnungstür vorbei in die Küche, wo er feststellte, dass es im Kühlschrank ziemlich dürftig aussah.
Er versuchte, gelassen zu bleiben, aber wie sehr er sich auch bemühte, er zitterte am ganzen Körper, hatte einen sauren Geschmack im Mund, verspannte Kiefer und brennend heiße Wangen.
Das Mindeste, was man von den Leuten erwarten konnte, war, dass sie sich darüber klar wurden, was sie wollten und was nicht. Aber Lóa verhielt sich wie das Zerrbild einer Frau: Fahr zur Hölle – hilf mir. Geh weg – bleib hier.
Sveinn wollte schnell etwas essen, zwei Schmerztabletten schlucken und dann nach Hause fahren – mit oder ohne der Schwarzhaarigen. Vielleicht konnte er Lárus anrufen und ihn bitten, ihm zu helfen, die Puppe ins Auto zu tragen.
Aber nein, das ging nicht. Er konnte Lóa in diesem Zustand nicht alleine lassen. Wahrscheinlich war sie eine Gefahr für sich selbst und andere. Machte man sich nicht strafbar, wenn man jemanden ignorierte, der in Gefahr war?
Warum fühlte er sich eigentlich für diese Frau verantwortlich? Wo waren ihre Mutter, ihre Familie, ihre Freundinnen?
Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Entscheidung zu verschieben. Ins Wohnzimmer zu gehen und noch ein paar Wissenschaftsmagazine zu holen. Den Kühlschrank näher in Augenschein zu nehmen. Er fand ein Glas mit eingelegtem Hering, scharfen Senf, Schimmelkäse, Ananassaft. Sveinn schaltete das Licht ein und suchte nach Keksen oder Knäckebrot, wobei sein Blick auf ein paar alte Fotoalben in dem Regal mit den Kochbüchern fiel. Er schlug eins auf und sah blonde Kinder in weiten Latzhosen und maschinegestrickten Wollpullovern. Mit Lämmern auf dem Arm, auf Rechen gestützt, die doppelt so lang waren wie sie, und ohne Sattel zwischen verrosteten Wellblechplatten und schiefen Zäunen umherreitend. Kinder mit Milchbärten, Kinder in der Badewanne und vereinzelte Erwachsene mit starrem Lächeln und steifen Schultern, weil sie sich der Kamera bewusst waren. Männer, die sich vorbeugten, als trauten sie der Kamera nicht zu, bis zu ihnen hinzureichen. Frauen, meist mit etwas Essbarem in der
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