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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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Hand oder mit vor der Brust verschränkten Armen.
    Sveinn schob die Zeitschriften ans andere Ende des Tisches, stapelte die Alben neben dem Glas und der Saftpackung auf, piekste drei süße Heringshappen auf die Gabel, steckte sie in den Mund und begann zu blättern. Doch, das musste Lóa sein, vielleicht mit sechs Jahren, mit weißblondem, lockigem Haar und einem tiefen Grübchen. Gut, dass sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, was als Erwachsene auf sie zukam. Und da trug irgendein Hüne sie auf dem Arm, wahrscheinlich ihr Vater. Hatte sie nicht erzählt, er sei Europameister im Bankdrücken gewesen? Was für breite Schultern, und Arme wie die Schenkel einer Riesin.
    War das Hans Sigurjónsson aus Hlíd im Svarfadardalur? Wie hatte er noch mal auf dem Foto in der Todesanzeige ausgesehen?
Grauhaarig, rundlich, nicht besonders eindrucksvoll. Keinesfalls so muskulös wie der auf dem Bild. Wahrscheinlich hatte er im Alter etwas abgebaut. Obwohl Lóa doch erzählt hatte, er hätte fast bis zu seinem letzten Atemzug Gewichte gestemmt.
    Sveinn musterte das Gesicht des Mannes und versuchte, die Züge eines Selbstmörders darin zu erkennen – aber es gelang ihm nicht. Da war nichts zu sehen als angeschlagene Gesundheit und maskuline Einfalt.
    Da saßen sie, der Hüne und Lóa, auf der Motorhaube eines dunkelblauen Benz. Das heißt, sie saß, während er sich mit dem Rücken an den Wagen lehnte. Sie war ein bisschen älter, trug kurze Haare und einen kleinen Geldbeutel um den Hals. Im Hintergrund belaubte Bäume, gut gepflegte Blumenbeete und die Mutter in der Türöffnung – die, der er begegnet war, als es ihn zum ersten Mal in diese Wohnung verschlagen hatte, nur ein Vierteljahrhundert jünger und mit einem wesentlich hübscheren Lächeln.
    Sveinn zuckte zusammen, als sein Handy klingelte.
    Es war Kjartan, und während der um das eigentliche Thema herumredete, fand Sveinn endlich in einem der Küchenschränke eine Packung Haferkekse, beschmierte einen Keks mit Senf und legte zwei Heringshappen und eine Scheibe Schimmelkäse darauf.
    »Soll ich dir glauben, dass du immer noch in Reykjavík bist?«, fragte Kjartan.
    »Ja«, antwortete Sveinn und schob den Keks in den Mund.
    »Ist die Kleine so wild im Bett? So sind sie, diese Kriminellen. Machen nichts anderes als vögeln und sich vermehren. Kein Wunder, dass es mit der Menschheit den Bach runtergeht. Aber du bist doch eigentlich nicht so. Von dir hätte ich so was nie gedacht, wo du doch so schwer verletzt bist.«

    »Es ist ja nicht…«, setzte Sveinn an.
    »Jetzt red dich nicht raus. Ich mache dir deswegen keinen Vorwurf. Du bist schließlich Künstler und brauchst Inspiration. Bei uns, die wir kein ausschweifendes Sexleben haben, verkümmert die ja einfach. So wie die Geschlechtsorgane verkümmern und die Seele verkümmert«, sagte Kjartan, schon ganz heiser vom Moralisieren. »Die Seele besteht nicht aus trockener Vernunft, sie ist kein Aristoteles. Die Seele ist Sokrates! Der es wagte zu sterben!«
    Sveinn musste lachten, obwohl er solche Anspielungen nicht leiden konnte, da sie sich leicht verselbstständigten und zu echten Missverständnissen wurden.
    »Solltest du nicht längst im Bett sein, Alter? Was willst du?«, fragte er.
    »Nur kurz fragen, wie es dir geht, und abchecken, ob diese Frau schon alle Energie aus dir gesaugt hat«, antwortete Kjartan.
    »Da kannst du dir sicher sein«, entgegnete Sveinn. »Aber sag mal: Weißt du, ob der alte Hans aus Hlíd Krafttraining gemacht hat? War der Typ doppelt so breit wie andere Männer?«
    »Das weiß ich nun wirklich nicht, ich kannte ihn genauso wenig wie du«, antwortete Kjartan.
    »Du verfolgst das ganze Gerede über die Geschichte doch viel mehr als ich«, sagte Sveinn. »Du weißt ja, dass ich keine Lust hatte, mir das anzutun.«
    Kjartan schwieg, bis auf ein paar Schmatzer und Räusperer, und sagte dann: »Auf den Fotos in den Zeitungen war er mittelgroß und normal breit, aber warum willst du das wissen?«
    Sveinn spürte, wie die Luft aus seinen Lungen wich wie aus einem angestochenen Reifen.
    »Bist du noch dran?«, fragte Kjartan.
    »Ja.«

    »Ich verstehe nicht, was der Körperbau eines toten Mannes jetzt noch für eine Rolle spielt.«
    »Ich suche nur nach einem Zusammenhang. Man bekommt doch immer eingetrichtert, der Sinn des Lebens sei die Suche nach einem Zusammenhang. Ständig wird behauptet, es gäbe eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Dingen, und man würde sich besser fühlen, wenn man

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