Der Schoepfer
ihre Vernunft zu appellieren. Und wenn das nicht reichte, würde er eben mit der Puppe nach Hause fahren, einen Schäferhund kaufen, sich eine Geheimnummer zulegen und die unter strengen Auflagen an Freunde und Verwandte verteilen.
XVIII
Donnerstag
Manchmal meinte Lóa, den Klang all dessen, was ihr durch den Kopf ging, zu hören. Es klang nicht wie eine Cocktailparty, sondern eher so, als würde Gott auf eine seiner Welten horchen. Überall Stimmen, Musik, Entsetzen, Wellengang, Planetenrauschen und Meteore in rasendem Flug, unerträgliche Schande, die mit schneidendem Wehklagen hervorbrach, und so weiter. So fühlte sie sich, während sie im Bad ihr Gesicht wusch, Gesichtscreme auftrug und sich in die Küche schleppte, wo offene und zugeklappte Fotoalben zwischen Zeitschriften und Kekskrümeln auf dem Tisch lagen. Von dort ging sie ins Wohnzimmer, wo Sveinn unter einer Decke auf dem Sofa schlief und die Puppe zusammengesunken in den Armen des Sessels lag, und da wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wo sie hingehen und was sie machen sollte.
Also blieb sie stehen und betrachtete die fremden Schlafenden: Sveinn mit einer fast ängstlichen, verbitterten Miene, die Puppe unendlich friedlich mit bis zum Hals zugeknöpftem Schlafanzug und einem Gesichtsausdruck, der an eine Heilige in einem Renaissancegemälde erinnerte. Und zum ersten Mal spürte Lóa jene Eifersucht auf die Puppe, derer Sveinn sie am Tag zuvor bezichtigt hatte. Nicht nur aus den offenkundigen
Gründen: eine Schönheit zu sein, der die Zeit nichts anhaben konnte. Bewundert zu werden, ohne etwas dafür tun zu müssen. Noch nicht einmal vom Blick anderer abhängig zu sein, obwohl eigens als Augenweide erschaffen. (Ach, die Schönheit. Von den Menschen andauernd mit Güte und Gerechtigkeit verwechselt. Wie leicht es doch war, einem so hübschen Gesicht sämtliche menschlichen Vorzüge zuzuschreiben.) Nein, nicht allein deshalb, sondern weil die Puppe etwas besaß, das sich Lóa in diesem Moment mehr als alles andere wünschte: Bewusstlosigkeit.
Lóa bekam Angst, als sie merkte, dass sie vielleicht noch nie so kurz davor gewesen war, Margrét und ihr Verlangen, sich vom Leben abzukoppeln, zu verstehen. Zu verstehen, dass man sich nicht zutraute, am Spiel teilzunehmen, das trotzdem immer weiterging.
Doch, es war durchaus möglich, sich wie Margrét zu verhalten. Alles von sich zu schleudern, sich hinzulegen und auf den Tod zu warten.
Lóa taumelte gedankenverloren in den Flur, den Mittelpunkt der Wohnung und den natürlichsten Platz, wenn man nicht wusste, wohin man wollte oder mit welcher Absicht. Dort fiel ihr Blick auf das Foto, das vor der Stallwand auf Jadur geknipst worden war, dem Hof, auf dem Lóa bis zu ihrem sechsten Lebensjahr aufgewachsen war. Margrét war auf dem Bild elf Jahre alt, trug eine Prinz-Eisenherz-Frisur, machte einen Handstand und strotzte vor Lebendigkeit. Ihre muskulösen Arme konnten ihren straffen Kinderkörper problemlos halten. Jeder, der das Foto sah, würde meinen, das Mädchen steuere mit voller Fahrt in eine leuchtende Zukunft.
Doch als Margrét in die Pubertät kam, hörte sie auf, etwas zu tun , und fing an zu warten . Als sei ihr aus Angst, etwas falsch zu machen und abgelehnt zu werden, all ihre Entschlossenheit
abhanden gekommen. Als hätte jemand zu ihr gesagt: »Du sollst dich an einer Spindel stechen und in einen hundertjährigen Schlaf fallen.« Gerade, als sie mit Perfektion die Rolle des Prinzen beherrschte, verwandelte sie sich in Dornröschen. Weshalb? Lóa wusste es nicht, erinnerte sich aber, sich in ihrer Jugend ähnlich verhalten zu haben, wenn auch nicht so vehement wie Margrét.
Eine alte Erinnerung schoss ihr durch den Kopf, an ihre Mutter, die grüne Tomaten auf die Fensterbank legte, damit sie in der Sonne rot und schön wurden. Lóa entsann sich, wie grenzenlos erstaunt sie gewesen war über die Fähigkeit ihrer Mutter, Dinge die Farbe wechseln zu lassen, aus Ungenießbarem etwas Essbares zu machen. Damals, als ihre Füße vom Stuhl noch nicht auf den Boden reichten, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als erwachsen zu werden und sich in die Fleisch gewordene Vollzugsgewalt zu verwandeln. Doch je weiter die lang ersehnte Verwandlung voranschritt, desto mehr faszinierten sie ganz andere Dinge.
»Was machst du da?«, fragte Sveinn, der gerade aufgewacht war, aus der Türöffnung. Bereits zwei Morgen in Folge sprach Sveinn sie mit genau diesen Worten an, nur dass er gestern hart
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