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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Freud: «Mir geht ein ‹advertisement› im Kopf herum, das ich für das kühnste und gelungenste Stück amerikanischer Reklame halte: ‹Why live, if you can be buried for ten dollars?›»[ 67 ] Von ähnlich hoffnungslosem Spott ist der Ausruf jenes Narren im «Buch der Leiden», der einen Mann verspätet zu einer Beerdigung rennen sieht:
    – Was beeilst du dich so, zum Friedhof zu kommen? Hast wohl Angst, daß die Suppe drüben kalt wird. (11/4, 143)
    Auch die Weisen sehnen sich bei Attar nach Vernichtung: Ein Scheich holt mit seinen Jüngern einen dringend benötigten teuren Mühlstein. Als einer von ihnen stolpert und der Stein auf den Boden fällt, so daß er zerbricht, gerät der Scheich in Verzückung. Die Jünger murren darüber, den schweren Stein umsonst tagelang getragen zu haben – wieso der Scheich denn zu allem Überfluß auch noch in Verzückung gerate über ein solches Mißgeschick? Indem der Stein zerbrochen sei, antwortet der Scheich, sei er davon erlöst worden, ständig nur im Kreise zu drehen, erlöst von der Verwirrung und dem Herumirren. Wäre er heil geblieben, hätte er sich weiterhin immerfort drehen müssen. Aber jetzt habe der Stein Frieden.
    – Als ich sah, daß der Stein Ruhe fand, indem er zerbrach, wurde auch mein Herz weich wie Bienenwachs; der Stein hat mir das Geheimnis verraten.
Wen immer die Unruh’ ergriffen hat,
            Wird befreit, er muß nur zerbrechen.
Wer immer verwirrt bleibt und ruhelos,
            Wird nicht Linderung finden, bis in die Ewigkeit. (12/1, 149)
    In einem anderen Werk könnten diese Verse auf ihre mystische Bedeutung reduziert werden, verstanden als Hinweis auf buddhistischen Einfluß (Erlösung durch Auflösung im Nirvana) oder auf das Verlangen nach Entwerdung, der unio mystica. Im «Buch der Leiden» jedoch haben sie zugleich einen realen, unmittelbaren Sinn: in diesem Leben nicht leben zu wollen. Schopenhauer fand die natürliche Anhänglichkeit des Menschen an seine Existenz bei näherer Betrachtung blind und unvernünftig. «Klopfte man an die Gräber und fragte die Todten, ob sie wieder auferstehen wollten; sie würden mit dem Kopf schütteln.»[ 68 ] Eine ähnliche Vorstellung führt im «Buch der Leiden» dazu, nicht nur sich selbst, sondern allen Menschen den Tod zu wünschen: Der Narr Bohlul liegt auf einem Grab und will nicht mehr fortgehen. Als ihn jemand auffordert, doch endlich in die Stadt zurückzukehren, erklärt Bohlul, daß er auf dem Grab liege, weil der Tote ihm Geheimnisse anvertraue. Der Tote habe nämlich geschworen, nicht eher die Erde von sich zu schütteln, bis alle Menschen gleich ihm unter der Erde lägen (4/3, 90f.).
    Die vorherrschende Reaktion auf das Leben ist im «Buch der Leiden» aber nicht einmal der Wunsch, es zu verlieren, sondern eine noch desolatere Einsicht: Nicht einmal unter der Erde ist Ruhe. Selbst die Hoffnung auf Vernichtung ist ausradiert. Von al-Hasan al-Basri (gest. 728), dem frühislamischen Asketen und Urvater des Sufismus, schreibt Attar:
Ein Mann wurde zur Erde getragen,
            Kam Hasan al-Basri an die Grube,
Blickte auf das Grab und den Friedhof auch,
            Setzte sich nieder und weinte um sich selbst.
Übel, sagte er, übel ist’s bestellt um uns,
            Ist doch das Grab der Welt letzte Rast,
Und zugleich der Ausgang in die and’re Welt.
            So haben Anfang und Ende ihren Ort unter der Erde.
Was hängst du an dieser Welt, die quält,
            Bis wir enden in diesem Grab bedrängt?
Allein, wie schrecklich muß jene Welt erst sein,
            Wenn schon ihr Eingang unter der Erde liegt?
Was bleibt noch zu sagen, wenn dies das Ende ist?
            Wehe uns, wehe, daß jenes der Anfang sein wird. (4/1, 88f.)
    Wer die Gerechtigkeit im Jenseits erwartet oder wenigstens für möglich hält, könnte sich, der irdischen Qual ausgesetzt, womöglich trösten. «Ja, wer an Vernichtung glauben könnte! Dem wäre geholfen/da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfache, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis.» Die berühmten Sätze Dantons über die Schöpfung sind mir immer wie ein Motto für «Das Buch der Leiden» vorgekommen.
    Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer. Die Schöpfung hat sich so breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich

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