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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Beispiel Hiobs lehre. Die wahre Frömmigkeit erweise sich nun einmal nicht in Zeiten des Glücks, sondern dort, wo gewöhnliche Menschen an der Liebe Gottes zu zweifeln begännen.
    «Geduld» (sabr), «Zufriedenheit» (riḍā) und mehr als alles andere «Vertrauen» in Gott (tawakkul) sind bis heute die elementaren Haltungen islamischer Frömmigkeit in Leid und Not. Der Glaube an Gott verlangt nach dieser Anschauung, die für die islamische Mystik vom 11. Jahrhundert an ungleich charakteristischer ist als die Verwünschungen Attars, das Vertrauen in die Vollkommenheit alles Bestehenden und nicht selten mehr noch als dies: die ungeteilte freudige Annahme von allem, was von Gott kommt.[ 51 ] Wohl wahr, Dichter wie Omar Chayyam oder Daqiqi mochten solche Predigten verlachen, doch standen sie mit ihren Ansichten ohnehin außerhalb oder jedenfalls am äußersten Rand der Religion. Mit Attar wird Gott jedoch attackiert von einem, der Ihm verfallen ist. Das macht die Schwere des Vorwurfes aus und das Spezifische daran.
    Daß Atheisten harmloser für Gott sind, hat bereits der konservative Theologe und Zeitgenosse Attars, Ibn al-Dschawzi (gest. 1200), erkannt, als er über den Freidenker Ibn ar-Rawandi sagte: «Hätte er den Schöpfer verneint, wäre es besser für ihn gewesen, als die Existenz Gottes zuzugeben, aber Ihn zu beschimpfen und zu verleumden.»[ 52 ] Nur wer an den Höchsten glaubt, kann mit Steinen bis in den Himmel schmeißen. Wer Ihn verneint, kann Ihm auch nichts vorwerfen. Wer aber – von der Mutter, der Geliebten, von Gott – verlassen, verstoßen oder abgewiesen worden ist, spürt die Einsamkeit am grausamsten. Das ist das Lebensgefühl der frühislamischen Asketen, deren Welt Attar dichterisch einfängt, ihr «Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht», um es mit Kafka zu sagen.[ 53 ]«O Menschenkind, du wirst allein sterben und allein in das Grab eingehen und allein auferweckt werden, und allein mit dir wird abgerechnet werden», lehrte al-Hasan al-Basri: «O Menschenkind, du bist gemeint, auf dich ist es abgesehen.»[ 54 ] Auf die Frage, wie es ihm gehe, lächelte Hasan und antwortete:
    – Was meinst du denn von Leuten, die mit einem Schiff ausgefahren sind, die aber, nachdem sie mitten auf dem Meer waren, Schiffbruch erlitten haben, so daß sich jeder von ihnen an einer Planke festhält: In welchem Zustand befinden sie sich?
    – In einem schlimmen Zustand.
    – Mein Zustand ist schlimmer als ihrer.[ 55 ]
    Es ist dieser Eindruck des metaphysischen Verlorenseins, der sich in Attars Werk bewahrt hat, obwohl es zeitlich schon am Übergang zur persischen Liebesmystik steht, die Gott weniger in Seiner furchteinflößenden Unnahbarkeit als in Seiner verzehrenden Schönheit sieht. Im «Buch Gottes» erzählt Attar von einem Kind, das auf dem Basar von der Mutter getrennt wird. Es weint bitterlich und schüttet sich vor Verzweiflung Erde ins Gesicht.
    – Wie heißt denn deine Mutter? fragen gute Leute, die fürchten, daß ihnen das Kind vor Kummer wegstirbt.
    – Das weiß ich nicht.
    – Hast du den Verstand verloren? Wo ist denn dein Haus? Bitte, sag es uns.
    – Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann mich an den Weg nicht mehr erinnern.
    – Wie heißt denn dein Viertel, die Straße?
    – Ich weiß es nicht.
    – Was sollen wir denn mit dir machen?
    – Ich weiß es doch nicht. Ich habe mich verirrt, ich weiß nicht den Namen meiner Mutter, noch wo wir wohnen, ich weiß nur, daß ich zu meiner Mutter will. Ich weiß nur, daß meine Mutter hier sein soll. Weiter weiß ich nichts.[ 56 ]
    Der Eindruck, von Gott verlassen worden zu sein, der mit der quälenden Sehnsucht nach Ihm einhergeht, hat bei religiösen Dichtern der westlichen Literatur zu ganz ähnlichen Metaphern geführt wie dem Schiffbruch al-Hasan al-Basris oder dem verirrten Kind Attars, vor allem natürlich bei Pascal, allerdings mit christlicher Schuldkonnotation:
    Man stelle sich eine Anzahl von Menschen in Ketten vor, die alle zum Tode verurteilt sind und von denen einige vor den Augen der anderen umgebracht werden, so daß die Übriggebliebenen ihre eigene Lage an jener ihrer Schicksalsgefährten erkennen und, einander schmerzerfüllt und hoffnungslos anblickend, erwarten, daß sie an die Reihe kommen. Das ist das Ebenbild der Lage des Menschen.[ 57 ]
    Im 20. Jahrhundert kehren solche Menschheitsbilder am deutlichsten bei Kafka wieder, dort jüdisch belegt mit der Verborgenheit Gottes. «Wir sind, mit dem irdisch befleckten Auge

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