Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
gesehen, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind», notiert er im dritten Oktavheft, «und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind.»[ 58 ]
Die Glut im «Buch der Leiden» ist innerweltlich nicht zu erklären. Es ist das Leuchten des Himmels, das Feuer der Hölle. Es ist die Glut Gottes, in der die Menschen brennen, ohne verbrannt und damit erlöst zu werden.
Jener Narr von den Geheimniswissern
Wand sich im Tod Stund’ um Stund’,
In Aufruhr, obwohl ohne Kraft,
Ein Wolke sein Antlitz, der Regen Blut.
O Gott, sprach er, Seelenspender, warum hast Du
Die Seele überhaupt gegeben, wenn Du sie wieder nimmst?
Besser wär’ mir, wenn ich nicht wär’,
Wär’ sicher dann vor soviel Sterbensqual,
Müßt’ nicht das Leben hergeben für den Tod,
Und Dir wär erspart der Seelen Spende wie ihren Raub. (4/4, 91)
Wie sehr Attar die islamische Tradition des Haderns mit Gott, die vor ihm bereits im Islam existierte, auf die Spitze treibt, läßt sich gut beobachten im Vergleich zu dem hundert Jahre früheren Muhammad al-Ghazali, der dem Motiv einen eigenen Abschnitt seiner Hauptschrift, der «Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften», widmet.[ 59 ] Wie es für al-Ghazali, der zwischen Mystik und Orthodoxie vermittelte, charakteristisch ist, diskutiert er das Hadern wohlwollend, um es zugleich zu entschärfen. So geht al-Ghazali nur vereinzelt auf Narren und andere Laien ein, sondern beschränkt sich im wesentlichen auf Geschichten von Propheten wie Mose, Bileam oder Jona sowie auf die Asketen der islamischen Frühzeit. Hier interessieren ihn besonders solche Fälle, in denen die Frommen durch vehemente Vorhaltungen Gott dazu bringen, etwas zu tun oder zu lassen. Die Frommen fordern von Gott Erbarmen – und Gott gewährt es. Typisch dafür, wie er das Thema behandelt, ist die Geschichte von zwei Sufis, die al-Ghazali an anderer Stelle erzählt. Nachdem einer von ihnen gesündigt hat, vertraut er sich Gefährten an und stellt ihm anheim, deshalb die Bruderschaft aufzukündigen.
– Niemals werde ich die Bruderschaft mit dir brechen, weil du gesündigt hast, ruft der Gefährte und kündigt an, so lange nicht zu essen und zu trinken, bis Gott dem Sünder verziehen habe. Da mußte Gott nachgeben und dem Sünder verzeihen.[ 60 ]
Auch die orthodox orientierte Mystik hat also das Hadern mit Gott (taẓallumalā r-rabb) akzeptiert, es aber zugleich strikt auf die «Freunde Gottes» (awliyā) eingegrenzt, die zu Gott in einem besonders vertraulichen Verhältnis stehen. So wie sich Liebende gelegentlich im Vertrauen Vorhaltungen machten oder einen liebevollen Zwist austrügen (itāb), so dürften sich die Heiligen einzelne anmaßende Worte erlauben. «Die Klage eignet den Leuten der Gotteserkenntnis, weil sie ihren Zustand in der Prüfung ihrem Herrn klagen», meint der Mystiker Sahl at-Tustari: «Der höchste Stand der Geduldigen ist die Klage. Sie steht den Leuten der Gotteserkenntnis an, ist aber bei anderen eine Sünde.»[ 61 ] Insgesamt ist der Sufismus eben keineswegs nur durch Gottes furchteinflößende Macht bestimmt, sondern ebensosehr durch dessen Schönheit und Barmherzigkeit. «Furcht ist männlich, die Hoffnung weiblich», zitiert Attar selbst in den «Heiligenviten» einen Satz at-Tustaris: «Das Kind der beiden ist der Glaube.»[ 62 ] Furcht und Hoffnung stellen eine Waage des religiösen Gefühls dar, die bei den frühen Asketen, also im 8. und 9. Jahrhundert, zur Furcht, über die Jahrhunderte aber immer deutlicher zur Hoffnung neigte. Auch Attar kennt und beschwört neben dem mysterium tremendum durchaus das mysterium fascinans, besonders in seinen «Vogelgesprächen». Es ist nur sein «Buch der Leiden» – ein Sonderfall nicht nur für den Sufismus, sondern in Attars eigenem Werk –, das von der Faszination Gottes kaum etwas übrigläßt. Zwar betont Attar im «Buch der Leiden», daß nur jene mit Gott hadern dürften, die mit Ihm vertraut sind, aber das Hadern selbst fällt dann oft so drastisch aus, daß es mit dem deutschen Wort, insofern es ein Ringen, einen Zweifel – also nicht schon die schiere Verzweiflung – zum Ausdruck bringt, kaum noch zu fassen ist: Bei Attar gerät das Hadern immer wieder zu einer rückhaltlosen Anklage, die jeden Gedanken an Versöhnung
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