Der Schrecken verliert sich vor Ort
trinken.
Ich rühre den Kuchen nicht an, sagte Lena, bevor ich nicht weiß, was mich erwartet.
Schau Lena, sagte Heiner und sie hörte zum ersten Mal die beiden Worte, die sie in Zukunft begleiten würden wie eine Melodie, nur für sie komponiert. Schau, Lena. Damals konnte sie sich nicht vorstellen, wie unterschiedlich er diese beiden Worte benutzte. Je nach Betonung klangen sie weich – schau, Lena, ich erzähle dir eine Geschichte – oder wie ein Befehl: Schau Lena! Sie konnten sich anmaßend anhören, fordernd, belehrend, ungeduldig – schau, Lena, wieso weißt du das nicht! An diesem Nachmittag in Wien waren die Worte, während er ein bauchiges, mit hellem Sand gefülltes Senfglas aus der Bücherwand zog, sanft, fast verführerisch. Schau, Lena, was ich hier habe. Er stellte das Glas neben den Pflaumenkuchen. Was mag das sein?
Jedenfalls keine Eieruhr.
Rate. Nimm es in die Hand.
Die Erinnerung an einen schönen Urlaub. Südsee?
Bohre deinen Zeigefinder hinein. Das piekst, nicht wahr? Rate weiter.
Zerriebene Muscheln? Kies?
Er nahm das Glas zurück. Beiläufig, als spräche er über das Wetter, sagte er: Wenn du in Birkenau vom Frauenlager hinüber gehst zum Krematorium II, dann entdeckst du dort einen schmalen Pfad, nichts Besonderes. Die Menschen achten nicht darauf, sagte er, wenn es unter ihren Füßen knirscht. Kleine Steinchen eben, Kies, Sand. Aber was dort wirklich unter den Füßen knirscht, sind die Reste verbrannter Menschen. Mit einer zärtlichen Geste nahm er ihr das Glas aus der Hand. Verstehst du? Was hier piekst, sind Knöchelchen. Jedes von einem anderen Menschen. Sie liegen dort auf den Wegen, weil sie beim Abtransport vom Lastwagen gerieselt sind. Man hat in Birkenau die Tümpel und Teiche damit aufgefüllt. Der Weg dorthin ist weiß. Du gehst über Tote und merkst es nicht.
Er zerteilte den Pflaumenkuchen und schenkte Kaffee ein.
So ein Knöchelchen hätte ich auch werden können.
Er legte ihr den Kuchen auf den Teller. Greif zu.
Lena stieß den Teller in die Mitte des Tisches. Pflaumenkuchen, Schlagsahne und Knochenreste – du meinst es wirklich gut mit mir.
Der Kuchen, sagte Heiner, kann nichts dafür, dass die Erde dort weiß ist.
Das Glas wird uns begleiten?
Es ist meine Grabbeilage.
Es wohnt bei uns?
Es muss in meiner Nähe sein.
Lena sagte: Ich weiß nicht, ob ich mit einem Senfglas leben kann, in dem die Toten lebendig sind.
Weil Lena den Kuchen nicht anrührte, aß auch Heiner nichts. Sie saßen sich gegenüber und schwiegen.
Sag was, Lena.
Gemütlicher habe ich nie Kaffee getrunken.
Er stand auf, trug die Teller mit dem Kuchen in die Küche, räumte die Tassen und Untertassen vom Tisch, die Schüssel mit der Sahne, die Kuchengabeln. Er pendelte zwischen Esszimmer und Küche, als wolle er mit dem Abräumen nie fertig werden. Er spülte das Geschirr, rieb es trocken, räumte es, Teller für Teller, Tasse für Tasse, in den Schrank. Lena sah zu.
Das Glas, sagte sie, ist es lebenswichtig wie dein Kopf und dein Herz?
Er nickte.
Als es in der Küche nichts mehr zu tun gab, stellte Heiner eine Flasche Sekt auf den Tisch und zwei Gläser. Er wollte mit ihr auf Wien anstoßen, ihren Besuch in seiner Wohnung. Er öffnete die Flasche, schenkte die Gläser voll, Lena starrte in ihr Glas, als wollte sie die Perlen zählen. Zwischen ihnen stand ein Senfglas mit Sand.
Um diesen Tisch herum hatte einmal eine große Familie gesessen, alle, die er liebte. Vater und Mutter, die Schwestern Greta und Alma, die Großmutter mit den schönen Haaren, die sie wilde Hilde nannten. Auch in größter Not, wünschen wir uns Salz und Brot. Immer waren an diesem Tisch die wichtigen Dinge besprochen worden. Das Schattendorfer Urteil. Der brennende Justizpalast. Und dann, nach und nach, hatten sie alle den Tisch verlassen. Zuerst der Vater, dann er selbst, die Großmutter, die Mutter, die Schwestern. Heiner stand auf, ging um den Tisch herum und rückte die Stühle zurecht. Was konnte er tun, um Lena zu überzeugen, dass so ein Glas mit Knöchelchen nicht weiter schlimm war, dass sie damit leben könnte wie mit Fotos von Verwandten, die es auch nicht mehr gab. Er könnte sagen: Schau, Lena, was ist der Unterschied zwischen dem vergilbten Foto deiner toten Großmutter und den Knöchelchen in diesem Glas? Beides sind Erinnerungen an Menschen, die es nicht mehr gibt. Die Knöchelchen sind sauber, sie riechen nicht, sie haben einen großen Vorteil: Sie haben kein Gesicht. Sie erinnern, das
Weitere Kostenlose Bücher