Der Schrecken verliert sich vor Ort
gebe ich zu, an die Art, wie die Menschen ums Leben gekommen sind. Aber tun das Fotos nicht auch? Wenn du einen Onkel hast, der erstochen wurde und du betrachtest das Foto, auf dem er jung ist und lebendig – dann denkst du doch auch an sein grausames Ende? Also ist doch der Sand auch weiter nichts als eine Erinnerung. Wenn du willst, können wir das Senfglas Südsee nennen. Er verließ den Tisch und stellte sich ans Fenster.
Dort unten hatten die Kinder gepfiffen, wenn sie mit ihm spielen wollten. Der Wasserer tränkte die Pferde. Durch diese Straße war sein Vater zur Arbeit gegangen, er sah den geraden Rücken, den energischen Gang und das Gesicht, wenn er zurückkam und ihm winkte. Wenn das Winken aus einer müden Bewegung bestand, wusste Heiner, dass der Vater einen schweren Tag gehabt hatte. Der Justizpalast brennt. Wir gehen radikalen Zeiten entgegen. Am Tag vor dem Einmarsch war Wien ein Hexenkessel und Heiner mittendrin, an seiner Seite Martha. Für den Sieg über die Nazis hätten sie ihr Leben gegeben. In seinen Lebenserinnerungen hat Carl Zuckmayer den 11. März 1938 beschrieben und als Heiner diesen Text entdeckte, übertrug er ihn Wort für Wort in sein Notizbuch. So war es gewesen, genau so. An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen; die einen in Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wildem, hasserfülltem Triumph. Ich erlebte die erste Zeit der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit den Tagen in Wien zu vergleichen … Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt. Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Hass richtete sich gegen alles durch die Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Hexenkessel des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlicher Würde. Vom Fenster dieses Zimmers aus hatte er am 9. November 1938 das Feuer in der Stadt entdeckt und die Freunde zusammen getrommelt: Genossen, in der Hubergasse brennt der Tempel! Er sah, wie die Feuerwehr die Wohnhäuser schützte und die Synagoge verkohlen ließ. Er beobachtete zwei Nazis, nicht älter als er, die einen uralten Mann zwangen, auf der Ottokaner Straße den Gehweg mit der Zahnbürste zu scheuern. Sie bespuckten den Mann, sie schrieen ihn an: Schrubb Jud’, du hast mit deinen stinkenden, jüdischen Schweißfüßen einen deutschen Gehweg versaut. Er stand in einer Gruppe von stumm starrenden Leuten und rief: Ihr Schweine, ihr seid keine Menschen! Sie stürzten sich auf ihn. Heiner wurde zum ersten Mal in seinem Leben von Nazis verprügelt, die nur von ihm abließen, weil sich die Freunde dazwischen warfen.
Die Stadt war nicht wiederzuerkennen, auch seine Straße hatte sich verwandelt. Aus den Fenstern hingen Hakenkreuzfahnen, die Nachbarn rissen die Arme hoch: Heil Hitler. Servus, sagte Heiner. Seit acht Monaten waren die Nazis in Österreich. Das Land hatte dem ›Anschluss‹ entgegen gefiebert. Der Führer sprach auf dem Heldenplatz und Heiners Landsleute jubelten. Er konnte nicht durch die Stadt laufen, ohne das Gesicht Adolf Hitlers zu sehen. Es klebte an jeder Wand, in jeder Straße, an jeder Litfasssäule, in jeder Trambahn. Tausende wurden verhaftet, Juden, Sozialdemokraten, Künstler, Kommunisten, die Listen waren fertig, die ersten Transporte gingen nach Dachau. Von Heiners Genossen blieben nur wenige übrig. Die Nazis traten ihnen die Türen ein, bevor sie fliehen konnten. Und die wenigen, die sich vor der ersten Verhaftungswelle in Sicherheit bringen konnten, druckten und verteilten Flugblätter in Wien: Kampf den Faschisten! Nazis raus aus Österreich! Bald waren sie nur noch zu dritt. Heiner, Martha und Paul, der ihm wie ein großer Bruder war. Er stammte aus Ungarn und zog seinen Sohn Laszlo, den er Lassi nannte, alleine groß. Paul Szende hatte einen Filmverleih im 1. Bezirk und wenn Heiner und Martha abends auf Lassi
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