Der Schrecken verliert sich vor Ort
war Zeuge eines zweiten Mordes geworden.
Eine Woche später wurde er von einer Kugel aus dem Hinterhalt getroffen. Sie blieb in der Schulter stecken. Vielleicht hatte genau der Soldat auf ihn gezielt, dem er so gerne gesagt hätte: Je suis Einér. Je suis communiste. Je hais le boches. Er wurde notversorgt und nach Hause geschickt. Nach Wien in Deutschland.
Nur einmal noch hat er nach dem Krieg Abbeville besucht. Er hoffte, neue Eindrücke könnten alte Erinnerungen auslöschen. Wie ein Maler, der die Leinwand übermalt, wenn ihm das Bild nicht gefällt. Er ging durch die Stadt. Er prägte sich die schönsten Plätze ein, fotografierte sie mit den Augen. Er setzte sich in ein Café und sah den Menschen zu. Er sagte sich: Das sind lebendige Menschen. Das sind spielende Kinder. Das sind alte Leute, denen die Flucht gelungen sein muss. Er ging am Ufer der Somme entlang, sie hatte es eilig, ihr Wasser war klar. Wenn Heiner die Augen schloss, sah er schwarze Päckchen. Sein Kopf wollte die neuen Bilder nicht.
Je suis Einér. Je suis communiste. Je hais les boches. In Frankreich hatte er vergessen, dass man ihn suchte in Wien, die Gestapo hatte den Auftrag, ihn zu verhaften, nur zurückgestellt. Er stand auf ihrer Liste: WVR, Wiederaufnahme des Verfahrens bei Rückkehr. Er lag in einem Spital am Chiemsee und verfasste Flugblätter gegen die Nazis und ihren verfluchten Krieg und ahnte nicht, dass Gendarmen unterwegs waren, um ihn wegen fortgesetzter illegaler Arbeit festzunehmen.
Ja, sagte der Chefarzt, Herr Rosseck ist mein Patient, bitte nehmen Sie Platz. Der Professor ließ ihn holen, unverzüglich und ohne Vorwarnung, Heiner hatte keine Chance. Es war einen Tag vor seinem 22. Geburtstag. Zwei runde Amtspersonen begleitetet ihn auf sein Zimmer, baten höflich, sich auf das Bett setzen zu dürften und ließen ihn den Koffer packen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie die Zuckerstückchen einsteckten, die auf dem Nachttisch lagen. Er bot ihnen Schokoladenkekse an, die sie mehr interessierten als das, was er tat. Er zerriss die Notizen für die nächste Flugblattaktion, vernichtete Adressen und Telefonnummern, der nächste Patient sollte ein ›sauberes‹ Zimmer übernehmen. Dann marschierten sie mit aufgepflanztem Bajonett, Heiner in der Mitte, im Stechschritt durch Prien. Sie hatten ihm keine Handschellen angelegt. Er hätte fliehen können, seine Begleiter waren nicht die Hellsten, sie fragten dreimal nach dem Bahnhof, obwohl sie vor nicht einmal zwei Stunden dort angekommen waren. Er folgte ihnen zum Zug, fliehen in einer Stadt, die er nicht kannte, war riskant, er wusste nicht, aus welcher Ecke man auf ihn schießen würde. Das Abteil war reserviert, sie saßen zu dritt in der dritten Klasse und plauderten über schlechte Zeiten, den Krieg und dass eines Tages alles besser werden würde, weil auf Regen Sonnenschein folgt und alles einmal zuende geht, zwischendurch fielen den Bewachern die Augen zu. Der Zug fuhr zu schnell, um abzuspringen. In Salzburg erlaubten ihm die Gendarmen, Martha anzurufen für einen schnellen Satz: Herzele, Ankunft Mitternacht in Wien, schau, dass du kommst. Sie stand wirklich am Bahnhof. Gemeinsam redeten sie mit Engelszungen auf die Gendarmen ein, ihn nicht bei der Gestapo abzuliefern, nicht sofort, nicht in der Nacht. Schaut, sagte Heiner, was soll die Gestapo mit mir um Mitternacht? Vielleicht ist niemand da – und dann? Und wenn dort jemand ist, sagte Martha, dann sind die sehr, sehr böse auf euch, weil ihr sie geweckt habt.
Später spielte Heiner die Geschichte nach wie einen Schwank im Volkstheater.
Aber Madel, jammerten die Gendarmen, wir müssen den Bub bewachen, Befehl ist Befehl.
Freilich sollt ihr mich bewachen, sagte Heiner – aber das könnt ihr auch bei mir daheim. Die Gemütlichen sahen sich an.
Bei dir daheim?
Freilich, sagte Martha, seine Mama macht ein schönes Essen und in der Früh’ liefert ihr den Heiner ab. Sie hakte sich bei den Gendarmen ein und hatte gewonnen. Mit der letzten Tram fuhren sie in die Rauscherstraße. Heiners Mutter bestrich Brote mit Schmierwurst, verlängerte die dünne Gemüsesuppe und die Gendarmen verschlangen alles gierig, als hätten sie seit Wochen nichts zu essen bekommen. Dann legten sie sich zu viert im Schlafzimmer der Eltern in die Ehebetten: Zwei dicke Polizisten mit Bajonett, in der Mitte der Gefangene und seine Verlobte.
Sie haben sich in dieser Nacht aneinander gekrallt, als könnten sie verschmelzen, als könne er in
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