Der Schrecken verliert sich vor Ort
aufgepasst hatten, kochte er Wurstsuppe oder gab ihnen Geld. In Pauls Wohnung gab es keine Kreidestriche mehr, der Bettgeher schlief bei den Nazis. In der Nacht, in der Paul erfuhr, dass sein Filmverleih angezündet worden war, packte er zwei große Koffer und fuhr am frühen Morgen mit Heiner und Martha zum Bahnhof. Lassi war vor Freude wie aufgezogen. Er begriff nicht, dass das Abenteuer eine Flucht war. Er winkte mit beiden Händen aus dem Zugfenster, als führe er für zwei Wochen in die Ferien. Als der Zug anfuhr, ballte Paul die Faust. Rotfront. Auf Wiedersehen in Wien. Die winkende Faust sah aus, als hätte er seine Finger verloren. Jetzt waren sie nur noch zu zweit. Martha und Heiner, mutig und fanatisch. Ihr Gott hieß Stalin, in seinen Gulags saß zu Recht der Klassenfeind, so einfach war die Welt.
Ein Jahr später holte ihn das Deutsche Reich zum Arbeitsdienst in eine öde Gegend. Donauwörth! Kein Baum, kein Strauch, kein Berg, nur braune Felder. In Donauwörth lernte Heiner im Gleichschritt marschieren und beim Appell die Stiefelspitzen so auszurichten, dass sie mit den anderen hundert Stiefelspitzen, die neben ihm standen, eine Linie bildeten. In Donauwörth lernte er, dass es sein Land nicht mehr gab.
Wo kommst du her?
Wien, Österreich.
Er bekam einen Tritt in den Bauch.
Österreich? Gibt es nicht. Wo kommst du her?
Österreich. Wien.
Sie stopften ihm Schlamm in den Mund.
Es gibt kein Österreich. Wo kommst du her?
Sie warteten die Antwort nicht ab. Sie nahmen das Spucken und Würgen für das, was sie hören wollten: Wien. Deutschland.
Am 12. Mai begann der Krieg gegen Frankreich. Heiner war zwanzig, als er mit fünfzig jungen Männern einen Lastwagen bestieg, der sie dort wieder auslud, wo sie den Krieg beginnen sollten, in einer leeren Landschaft zwischen Belgien und Frankreich. Er bekam eine Uniform, einen Helm, einen Tornister, ein Gewehr voller Patronen. Danach war er zweiunddreißig Kilo schwerer und marschierte täglich fünfzig Kilometer. Sie waren der Nachschub, sie begleiteten Pferdewagen mit Verpflegung und Munition an die Front, wo genau die war, wussten sie nicht. Heiner war der einzige Österreicher, aber nicht der jüngste Soldat. Hermann, der neben ihm ging, war siebzehn und Meinhard, der Nachbar zur Linken, neunzehn. Hans, der Vordermann, freute sich so lange auf den Kampf, bis er die erste Leiche sah. Es war ein Bauer in Gummistiefeln, der ohne Kopf auf dem Acker lag. Hans würgte und in der Nacht rief er ›Mama, ich will nach Hause.‹ Meinhard sagte, dem Franzmann geschähe es Recht, das sei die Quittung für Verdun und Heiner betete: Lieber Gott, wenn es dich gibt, bring mir Französisch bei. Ich weiß nur Résistance. Mit Hans übte er beim Marschieren zwei einfache Sätze: Ich heiße Heiner. Je m’appelle Einér. Je suis communiste. Ich bin Kommunist. Widerstand. Heiner. Kommunist. Reicht das? Hans, was heißt: Ich will mit euch gegen die Deutschen kämpfen? Zu kompliziert. Er lernte: Ich hasse die Deutschen. Je hais les Boches. Aber wo waren die, denen er diese Sätze sagen konnte? In Paris, Marseille, Bordeaux, Lyon – nicht auf den verlassenen Höfen, an denen sie vorbei marschierten. Einsamer als in einer marschierenden Kolonne hatte er sich noch nie gefühlt.
Am 21. Mai 1940 betraten sie das Städtchen Abbeville an der Somme. Es war ein Dienstag. Hans hatte Geburtstag, er wurde achtzehn. Abbeville war in der Nacht zuvor von den Deutschen zerbombt worden. Heiner und Hans staksten durch die Stümpfe der Häuser und wunderten sich, dass es in einer völlig zertrümmerten Stadt Gegenstände gab, die, wie zum Trotz, heil geblieben waren. Ein Schaukelpferd. Ein Stückchen Wand, an der ein Kreuz hing. Ein Küchentisch, vier Teller mit Suppe unter einer dicken Mörtelhaut. Jeder Schritt in Abbeville war unanständig. Die Stiefel waren zu laut, sie waren ohne Respekt für die Toten. Niemand wusste, womit die Stadt zerbombt worden war. Hans vermutete Phosphor. Die Menschen waren zu schwarzen Päckchen geschrumpft, trotzdem konnte Heiner Gesichtszüge erkennen, scharfe Falten wie von einem Bildhauer gemeißelt. Er sah Kinder, die mit ihren Müttern auf der Straße lagen wie zusammengeschweißt. Wenn man die Toten mit dem Fuß berührte, zerfielen sie zu Staub. Meinhard gefiel es, die kleinen, schwarzen Franzmänner einstürzen zu lassen. Heiner sah, wie ein Gesicht, in dem man Falten sehen konnte, nach einem Tritt von Meinhard in sich zusammen fiel. Er übergab sich. Er
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